Der Staat verkraftet die Flüchtlingskrise finanziell erstaunlich gut. In den Bundestagswahlkampf will die Union nun mit Steuersenkungen für die Mittelschicht ziehen. Der Steuerwahlkampf ist eröffnet.
Im Sommer 2015 brüteten Wolfgang Schäubles (CDU) Beamte im Bundesfinanzministerium über einem Geheimplan. Auf Anweisung ihres Ministers arbeiteten sie an einem Steuerkonzept mit dem Titel „Mittelfristige Budgetstrategie”. Es sollte eine Blaupause für den Bundestagswahlkampf 2017 sein.
Nach dem Plan sollte die Mittelschicht entlastet und die Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge abgeschafft werden. Auch mit einem höheren Spitzensteuersatz liebäugelte Schäubles Haus. Doch dann warf die Flüchtlingskrise alle Etatpläne über den Haufen – und das Konzept verschwand in der Schublade. Vorerst. Denn nun will der Bundesfinanzminister den Plan wieder hervorholen.
Flüchtlingskrise gut verkraftet
Der Bund verkraftet die Flüchtlingskrise finanziell bislang erstaunlich gut. Die schwarze Null wackelt trotz aller Unkenrufe nicht, die Steuereinnahmen sprudeln weiter. Deshalb sieht Schäuble anders als vor einem Jahr doch Spielraum, in den kommenden Jahren die Abgaben an den Staat zu senken. „Das dringendste Problem ist der Mittelstandsbauch”, sagte Schäuble auf einem Steuerberaterkongress. „Mittlere Einkommen erreichen viel zu früh die höchste Progressionsstufe.”
Schäuble und seine Union wollen deshalb mit Steuersenkungen in den Wahlkampf ziehen. „Die Union ist für eine steuerliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen und von Familien”, bekräftigt Eckhardt Rehberg (CDU), Chefhaushälter der Unionsbundestagsfraktion. Nach Informationen der „Welt” taxiert Schäuble den Spielraum für Steuerentlastungen auf rund zwölf Milliarden Euro.
Auch die SPD hat angekündigt, die „arbeitende Mitte” entlasten zu wollen. Der anstehende Wahlkampf könnte sich deshalb – anders als noch vor Kurzem gedacht – schwerpunktmäßig nicht nur um Flüchtlings- und Sicherheitspolitik drehen. Er könnte auch zu einem Steuerwahlkampf werden. Doch ob das bedeutet, dass nach fast zehn Jahren Stillstand endlich eine große Steuerreform kommt, ist längst nicht ausgemacht.
Anspruchsvolles Konzept der SPD
Bereits bei der Bundestagswahl 2013 hatte die Steuerpolitik eine wichtige Rolle gespielt. Die Union ging damals von allen Parteien mit den geringsten Ambitionen in den Wahlkampf. Sie wollte die Steuern weder erhöhen noch senken. Arbeitnehmer sollten aber durch den Abbau der „kalten Progression” etwas entlastet werden.
Dies geschah 2015 auch. Schäuble minderte die sogenannten schleichenden Steuererhöhungen um 1,5 Milliarden Euro ab. Das waren allerdings Peanuts – gemessen an der Belastung, die den Steuerzahlern in den Vorjahren dadurch entstanden waren, dass ihre höheren Löhne durch das Zusammenspiel eines höheren Steuersatzes und der Inflation unterm Strich aufgefressen wurden.
Die SPD hingegen ging 2013 mit einem anspruchsvolleren Konzept in den Wahlkampf: Sie präsentierte eine voll durchgerechnete Reform. Die sah allerdings keine Steuersenkungen, sondern ausschließlich Steuererhöhungen für Besserverdiener vor. Jeder, der mehr als 64.000 Euro im Jahr verdiente, sollte mehr zahlen. Die Idee verfing nicht; die Sozialdemokraten fuhren auch deshalb ein schlechtes Wahlergebnis ein.
Da die Konzepte von Union und SPD vorne und hinten nicht zusammenpassten, einigten sich beide Parteien in den Koalitionsverhandlungen darauf, einfach vier Jahre lang gar nichts zu machen in der nationalen Steuerpolitik. Als größte Reform feiern die Koalitionäre das gerade beschlossene Gesetz zur „Modernisierung des Besteuerungsverfahrens”, das die Steuererklärung digitaler und damit einfacher machen soll.
Ansonsten arbeitete die Koalition nur die Reformen ab, die ihr durch das Verfassungsgericht (Erbschaftsteuer) oder durch auslaufende Gesetze (Bund-Länder-Finanzen) vorgegeben wurden. Und selbst diese beiden Reformen stecken seit zwei Jahren fest. „Wir haben uns in der Steuerpolitik völlig eingemauert”, sagt ein frustrierter Finanzpolitiker der Union.
Untere und obere Mittelschicht besonders betroffen
Dabei gäbe es genug zu tun. Deutsche Firmen investieren zu wenig, auch mangels Steueranreizen. Zweitverdiener werden nach Ansicht der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds hierzulande zu stark belastet und so davon abgehalten, mehr zu arbeiten.
Und in kaum einem anderen Industrieland muss ein Durchschnittsverdiener so hohe Abgaben leisten wie in Deutschland: Rund 50 Prozent seines Lohns gehen in Form von Steuern und Sozialabgaben an den Fiskus. Unter den Industrieländern ist nur in Belgien die Belastung höher. Im Durchschnitt dürfen Arbeitnehmer in OECD-Ländern 75 Prozent ihres Einkommens behalten.
Besonders an zwei Stellen ist das deutsche Steuersystem ungerecht: Bei der Besteuerung der unteren und der oberen Mittelschicht. Über dem Grundfreibetrag steigen die Steuersätze besonders stark an; das belastet vor allem Geringverdiener.
Aber auch wer gut verdient, wird stark zur Kasse gebeten: Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift schon bei einem Jahresbruttoeinkommen von 53.666 Euro. Kam er vor 50 Jahren erst ab dem etwa 20-Fachen des durchschnittlichen Einkommens zur Anwendung, ist es heute nur noch das Eineinhalbfache. „Die Spitzenbelastung für die Mittelschicht ist streckenweise schon fies”, konstatiert Finanzwissenschaftler Michael Thöne.
Abgeltungssteuer abschaffen
Das wollen sowohl SPD wie Union korrigieren. „Der Spitzensteuersatz muss in Zukunft beim echten Spitzenverdiener greifen und nicht wie heute beim normalen Facharbeiter, der gerade etwas mehr als der Durchschnitt verdient”, sagt Carsten Linnemann, Chef des CDU-Wirtschaftsflügels. Die Mittelschicht sei in den vergangenen Jahren „sträflich vernachlässigt” worden.
So wird die sogenannte Steuerquote – das Verhältnis aus Steuereinnahmen und Bruttoinlandsprodukt – von derzeit 22 in Richtung 23 Prozent steigen. Im Bundesfinanzministerium gibt es die Idee, die Quote auf 22 Prozent zu fixieren. Dafür müssten die Steuerzahler dann in den nächsten Jahren um zwölf Milliarden Euro entlastet werden.
Und was plant die SPD? „Natürlich wird sich die SPD auch mit Entlastungsmodellen für die arbeitende Mitte beschäftigen”, sagt der Chefhaushälter der Sozialdemokraten, Johannes Kahrs.
Ebenso herrscht Einigkeit zwischen Union und SPD bei der Abgeltungsteuer. Beide Parteien wollen nach 2017 die Steuer in Höhe von 25 Prozent abschaffen. Stattdessen sollen Kapitalerträge wie früher unter die Einkommensteuer fallen – also mit bis zu 42 Prozent besteuert werden.
Woher kommt das Geld für die Reform?
Doch damit gehen die Probleme los. Denn trotz der höheren Besteuerung von Kapitalerträgen wird kaum mehr Geld reinkommen, weil Kapitalerträge inzwischen meist aus Dividendengewinnen bestehen – und bei denen greift schon die Körperschaftsteuer zu. Um Dividenden nicht übermäßig zu besteuern, wird der Staat die Gewinne aus Unternehmeraktien wohl nur zur Hälfte besteuern. Deshalb ist kaum mit Mehreinnahmen zu rechnen.
Und so stellt sich die Frage, woher das Geld für eine große Steuerreform kommen soll, die diesen Namen auch verdient. So würde die Abflachung des „Mittelstandsbauchs”, also das starke Ansteigen des Steuersatzes im unteren Einkommensbereich, allein rund 30 Milliarden Euro kosten. „Wer die Mittelschicht spürbar entlasten will, muss auch sagen, woher das Geld dafür kommen soll”, fordert Finanzexperte Thöne.
Um eine Steuerreform gegenzufinanzieren, wären laut Thöne höhere Erbschaftsteuern, ein höherer Spitzensteuersatz oder das Streichen von Steuersubventionen denkbar. Während sich die SPD damit anfreunden könnte, lehnt die Union Mehrbelastungen für Gutverdiener oder Vermögende ab. „SPD, Linke und Grüne wollen Steuererhöhungen, und die meisten Länder wollen nicht auf Steuereinnahmen verzichten”, sagt CDU-Chefhaushälter Rehberg. „Hoffentlich kann nach der Bundestagswahl das Kartell der Entlastungsgegner aufgelöst werden.”
Die SPD hingegen kritisiert Finanzminister Schäuble. Dessen Vorschläge für Steuersenkungen seien unseriös. „Wenn Herr Schäuble stets die schwarze Null vor sich her trägt, wenig Spielraum bei den Verhandlungen mit den Ländern zeigt und jetzt aber gleichzeitig Wahlkampf mit virtuellen Spielräumen macht, finde ich das unsolide”, sagt SPD-Finanzexperte Kahrs. „Der Finanzminister soll einen soliden Kassensturz vorlegen, der dann ernsthafte Überlegungen für die Entlastung der arbeitenden Mitte ermöglicht.”
Der Steuerwahlkampf ist damit offiziell eröffnet. Die große Frage ist, ob sich die künftigen Regierungspartner nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr wieder blockieren wie 2013 – oder sich in der nationalen Steuerpolitik tatsächlich etwas bewegt.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article155661439/Schaeuble-zieht-mit-Steuersenkungsplaenen-in-den-Wahlkampf.html