In der britischen Politik, in der Fluchen zum Geschäft gehört, sind selten so viele undruckbare Schimpfworte gefallen wie in der vergangenen Woche. Und in der Konservativen Partei, die berüchtigt ist für die skrupellose Hinrichtung ihrer Anführer, ist selten so viel Blut geflossen.
Seit das EU-Referendum das Land in die tiefste Krise der Nachkriegszeit gestürzt hat, gleicht die britische Politik einer überdrehten Folge der Fernsehserie „House of Cards”. Deren Schöpfer, Lord Michael Dobbs, sitzt im britischen Oberhaus und hält die Zustände für „verwerflich” – was die Kraftausdrücke, die derzeit über die Verräter und die Abtrünnigen im Umlauf sind, treffsicher zusammenfasst.
Ähnlich gut trifft es der Karikaturist der „Sunday Times”. Er zeigt die Führungsriege der Tories als Intriganten. Jeder rammt dem ihm jeweils am nächsten Stehendendas Messer in den Rücken: Premierminister David Cameron wird von Boris Johnson abgestochen, der hinterrücks von seinem Brexit-Verbündeten Michael Gove erledigt wird, den wiederum Innenministerin Theresa May meuchelt. Kein schönes Bild.
Alle Zeitungen sind sich einig
Sogar die sonst so blutrünstige britische Presse scheint sich nach dieser Serie von atemberaubenden Massakern nach Ruhe und Stabilität zu sehnen. In ungewohnter Einigkeit haben sich alle wichtigen Blätter für eine Kandidatin ausgesprochen, die das Amt der Premierministerin übernehmen soll. „Sun”, „Daily Mail”, „Sunday Mail”, „Times”, „Independent”, „Telegraph” – alle wollen Theresa May.
Die 59 Jahre alte Innenministerin weiß nicht nur die Meinungsmacher hinter sich, sondern auch die Parlamentarier. Sie geht als haushohe Favoritin in die heute beginnende Abstimmung über die Nachfolge von Cameron.
Bis Mitte Juli hat die Fraktion der Konservativen Zeit, um zwei Kandidaten aus dem Feld der fünf Bewerber auszusuchen. Zwischen diesen zwei Spitzenkandidaten findet dann die Urabstimmung ab. Am Ende entscheidet also nicht das Establishment der Partei über den nächsten Premier, sondern die Basis. Und genau darin liegt in diesen unberechenbaren Zeiten das Problem.
Sie ist uneitel, fleißig und effizient
Denn auf den ersten Blick ist May zwar genau das, was das verunsicherte Land jetzt braucht: Weil sie sich aus dem Bruderkrieg des Referendums weitgehend herausgehalten hat, traut man ihr zu, die Partei zu einen. Offiziell stellte sie sich zwar auf die Seite von „Remain”. Inoffiziell aber galt sie als EU-Skeptikerin.
Sie ist uneitel, fleißig, effizient und hat Erfahrung. Bezeichnenderweise war sie es, die ihre Partei im Jahr 2002 davor gewarnt hat, als „nasty party” wahrgenommen zu werden, als „fiese Partei”. Damit ebnete sie damals dem jungen Modernisierer David Cameron den Weg.
Mittlerweile hat sie sechs schwierige, von Terrorängsten geprägte Jahre als Innenministerin hinter sich – seit mehr als hundert Jahren hat sich niemand so lange auf dem Posten halten können. Und obwohl ihr in dieser Zeit Ambitionen auf die Downing Street nachgesagt wurden, hat sie nie gegen Cameron intrigiert – was ihr nun zugutekommt. Sie gilt als solide und integer.
Das genaue Gegenteil der männlichen Kollegen
Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist May die Tochter eines Pfarrers. Und wie Merkel beschreibt sie sich als nüchterne Macherin: „Ich bin nicht angeberisch”, sagt sie über sich selbst. „Ich ziehe nicht durch die Fernsehstudios. Ich treffe mich nicht zum Mittagessen, um Gerüchte auszutauschen. Ich gehe nicht in die Bars von Westminister. Ich habe mein Herz nicht auf der Zunge. Ich kümmere mich nur um die Aufgabe, die vor mir liegt.”
May stellt, mit anderen Worten, das genaue Gegenteil jener männlichen Kollegen dar, die seit dem Brexit-Votum ein Drama nach dem anderen aufführen: Erst erklärte David Cameron sich für ungeeignet, das Land aus der EU zu führen, dann verzichtete auch der große Favorit auf die Rolle. Boris Johnson, der Anführer des Brexit-Lagers, verlor im letzten Moment die Unterstützung seines Verbündeten Michael Gove und gab auf.
Gove bewirbt sich nun selbst für den Parteivorsitz – doch selbst für hartgesottene Tories scheinen seine Machenschaften eine Spur zu brutal zu sein. „Man kann einfach keinen so bestialischen Brudermord begehen und sich dann für moralisch überlegen erklären”, gibt ein Parteifreund zu Protokoll. Gove gilt in der Fraktion als praktisch chancenlos. „Wir müssen uns nicht überlegen, wie wir Michael Gove erledigen”, sagt ein Berater von Theresa May, „das hat er selbst gemacht.”
Gute Chancen für eine Außenseiterin
In normalen Zeiten also, in denen das Volk auf das Establishment hört, wäre Theresa Mays Einzug in die Downing Street so gut wie ausgemacht. Doch die Zeiten sind nicht normal – die Mehrheit der britischen Bevölkerung hat sich schließlich gegen die geballte Macht der Elite für den Brexit entschieden.
Am 23. Juni haben die Mitglieder der Konservativen Partei im Verhältnis von 2:1 gegen die Regierung gestimmt. Es ist also gut möglich, dass diese Mehrheit May nicht akzeptiert, weil sie auf Camerons Seite stand. Das eröffnet das Feld für die Außenseiterin Andrea Leadsome.
Die ehemalige Bankerin kämpfte an Goves und Johnsons Seite für den Austritt. Hinter ihrer Kandidatur sollen auch reiche Finanziers der Rechtspopulisten von Ukip stehen. Ihr werden derzeit die besten Chancen zugesprochen, von der Fraktion neben der Vernunftkandidatin May aufgestellt zu werden. Dann müsste die Basis zwischen Vernunft und Brexit entscheiden. Letztes Mal ging diese Wahl nicht im Sinne des Establishments aus.
http://www.welt.de/politik/ausland/article156814013/Die-geniale-Ueberlebende-des-Brexit-Dramas.html