In global vernetzten Zeiten pflegt man seine Sportgruppe in einer App. Unser Autor läuft mit seinen Literaturfreunden um die Wette, jeder in einer anderen Stadt. Manchmal treffen sie sich sogar.
Gestern morgen gelaufen: in Oak Cliff, einem Stadtteil von Dallas, Texas. In der Hand mein Telefon. Erst am Highway, Billboards und Tankstellen, dann schlängelt sich der Weg durch sattes, feuchtes Grün einen Bach entlang. Wohnhäuser, flach und beige und texanisch, Palmen und Kakteen. Ein riesiger Golfplatz, früh morgens noch ohne Golfer, kleine Canyons und Wasserstürze, Affenbrotbäume und Magnolien. Es geht jetzt bergan. Ich versuche, den gemächlichen Sechs-Minuten-pro-Kilometer-Schnitt zu halten, alle fünf Minuten sagt eine leise Stimme die Zeit, die Distanz und die Geschwindigkeit an. Keine Musik.
Ohne anzuhalten fotografiere ich eine knallrote Rosenhecke, weil ich weiß, dass es in Deutschland heute regnet und erst wenig blüht. Eichhörnchen und Raubvögel in den Zweigen. Downtown Dallas liegt jetzt unter mir im Nebel. Ich fotografiere auch das. Kilometer fünf: vergessener Golfball vor Skyline. Bergab dann durch ein Wohngebiet, mein Telefon zeichnet per GPS-Tracker die Route und die Straßennamen auf, am Kessler Canyon fotografiere ich das Straßenschild. Für Sportsfreund Florian. Dann zurück zum Hotel. Beim Dehnen speichere ich den Lauf. Ich bin zwölf Kilometer gelaufen, zum Ende hin zwar schneller geworden, aber natürlich immer noch zu langsam gewesen. Ich bin immer zu langsam, finde ich.
Mein Lauf heute morgen ist Activity 434. Seit April 2011 zeichne ich meine Laufstrecken, Durchschnittszeiten und Höhenmeter auf. Ehe ich duschen gehe, drücke ich auf Save und teile damit sämtliche meiner Daten mit einer virtuellen Laufgruppe (und wohl auch mit Google, Sportartikelherstellern, Krankenversicherungen, Geheimdiensten). Diese App ist eine Art Facebook für Sportfreunde. Man labert weniger, man läuft mehr. Mit den anderen bin ich schon sehr lange und sehr analog befreundet. Wir sind überall verstreut: Saša läuft meist in Hamburg, Hauke und Stefan trainieren in Frankfurt, EJ im Wedding, Gordon auf Sylt, Florian in München. Sie sehen, wie schnell ich laufe. Wo. Wie. Mit wem. Sie sehen meinen Regen und meinen Sonnenschein. Ich ihre Flüsse, Laufschuhe, einen Esel am Straßenrand.
Die Daten meiner Läufe mit der App zu erheben, zu sammeln und zu vergleichen, war einmal eine Spielerei, eine pragmatische Motivationskrücke, ein Kontroll- und Erinnerungssystem. Zur Vergewisserung des Körpers und seiner Leistungsfähigkeit. Ich dokumentiere mich und bestätige mir, dass ich herumkomme, dass ich in Bewegung bin. Ich hinterlasse eine GPS-Spur auf der Erdoberfläche, wie Stillman und Quinn bei Paul Auster.
Mittlerweile haben die Aufzeichnungen einen Teil meines Tagebuchschreibens ersetzt, sie addieren sich zu einer Langzeitstudie der grandiosen und miserablen Zeiten. Wenn ich mir meine Laufstrecken ansehe, stöbere ich in einem Archiv der Lebensphasen: die Monate nach der Sprunggelenksverletzung 2011, die Lesereise 2012 (überall und nirgends gelaufen), die ersten Lebensmonate meiner Töchter (wenig gelaufen), die Marathonvorbereitung 2013 (viel gelaufen), die erkälteten Winter, die euphorischen Sommer: Am 27. August 2014 bin ich 24,56 Kilometer an der dänischen Westküste entlanggerannt und war dabei grundglücklich. Die Aufzeichnungen sind jetzt Erinnerungskrücken: der Zeckenlauf von Cima di Porlezza, die 30 Kilometer durch Berlin, die Runden um die Belgrader Festung, das leise Zischen der Schwäne am Hagener Hengsteysee.
434 Läufe sind eine Menge, aber in vier Jahren doch eher überschaubar. 4.659 Kilometer. 483.826 verbrannte Kalorien. Höhenmeter. Herzschläge. Ich will immer mehr als das, was aufgezeichnet wurde. Im Idealfall vier-, bis fünfmal in der Woche zehn oder mehr Kilometer laufen, pro Kilometer durchschnittlich 5:30 Minuten. Ich fasse immer wieder große Pläne: einen Halbmarathon im Sommer, einen Marathon im Herbst. Meine Aufzeichnungen sind der ständige Beweis des Scheiterns an diesen Vorhaben. Ich will jeden Tag schneller werden und dokumentiere dabei Jahr für Jahr mein Langsamerwerden.
Der eigentliche und wahrscheinlich beste Grund für die Selbstvermessung ist ein anderer. Als mein Vater so alt war, wie ich heute bin, in den späten 1980er Jahren, und noch lange, ehe er sich ein State-of-the-Art-Rennrad kaufte, mit dem er jetzt jedes Jahr Tausende von Kilometern zurücklegt (allerdings ohne GPS-Tracking oder Heart-Rate-Monitor), ging er regelmäßig zu einer Veranstaltung, die sich Altherrenturnen nannte. In der Sporthalle der benachbarten Grundschule trafen sich mittwochabends immer zehn, zwölf Männer und spielten Volleyball oder Hockey. Bei gutem Wetter gingen sie manchmal auch raus auf die Felder und joggten gemeinsam. Die Zwölf waren Leute aus dem Viertel, ein Lehrer, ein Versicherungsvertreter, ein Polizist, der katholische Priester soll einen fies flatternden Aufschlag gehabt haben. Man traf sich, trat gegeneinander an, schwitzte, und ab und an wird danach wohl eine Kiste Bier in der Umkleidekabine gestanden haben. Der Mittwochabend war ein Jour fixe in der sowieso schon regelhaften Woche: Bewegung, Wettstreit, Bierchen. Breitensport im besten Sinn.
Im Grunde macht unsere virtuelle Laufgruppe nichts anderes. Zwar sind wir alle an anderen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten, sogar in unterschiedlichen Zeitzonen unterwegs. Aber wir sehen, wie es dort aussieht, wo die anderen laufen.
Saša knallt an der Elbe entlang, mit durchschnittlichen 5:25 Minuten pro Kilometer, ich sehe mir sein verschwitztes „Selbstporträt vor Hochwasser” an, und fast ist es, als hätten wir tatsächlich zusammen trainiert. Haben wir auch schon: Ich weiß genau, wie sehr ich mich an der letzten Steigung hätte anstrengen müssen, um mit ihm Schritt zu halten. Danach hätten wir wohl ein Bierchen getrunken.
Ich sehe, wie diszipliniert Hauke Hückstädt in Frankfurt sein Intervalltraining für den Halbmarathon abreißt. Manchmal erkenne ich auf den Bildern den Babyjogger seiner kleinen Tochter, dann läuft er etwas langsamer, aber er grinst in die Kamera.
EJ van Lanen im Berliner Humboldthain hatte mit Knieproblemen zu tun, aber er kämpft sich zurück. Und ich bin dabei.
Florian Kessler in München wird gerade immer schneller, wahrscheinlich wird er auch immer jünger. Den Halbmarathon schafft er locker.
Ich sehe die Strecken der anderen und kann daran ablesen, wie es ihnen geht: wie fit sie sind, wie gestresst, wie müde, wie euphorisch. Psychogramme in knallharten Zahlen, herzliche Postkarten aus aller Welt, verschwitzte Selbstporträts in vollem Lauf und Gegenlicht. Meine verwackelten Freunde und ich, wir bewegen uns, wir rennen um die Wette. Später die Vorstellung eines gemeinsamen Bierchens, Altherrenturnen in Zeiten der Selbstvermessung.
——————————-
Schlafen, joggen, Kalorien zählen: In unserer Themenwoche „Quantified Self” auf ZEIT ONLINE widmen wir uns ausführlich der Gegenwart und Zukunft der Selbstvermessung.
Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es jetzt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.
http://www.zeit.de/freitext/2015/04/23/jogging-app-laufgruppe-pletzinger/