Die Stimmen, die Griechenland mangelnden Einsatz in der Flüchtlingskrise vorwerfen, werden lauter. Dabei zeigen sich in der Ägäis primär die Unzulänglichkeiten des europäischen Lösungsansatzes.
Da Europa bei der Lösung der Flüchtlingsfrage zu versagen droht, entdecken immer mehr Politiker die Vorzüge des Schwarzpeterspiels. Die ungeliebte Karte gibt man dabei vorzugsweise an Griechenland weiter, den schwächsten und exponiertesten Akteur. Vor allem die Innenminister Deutschlands und Österreichs beschuldigen lieber die Griechen, ihre Grenzen nicht zu schützen, statt die eigene Konzeptlosigkeit einzugestehen. Am Rande des EU-Innenministertreffens vom Montag drohten Thomas de Maizière und Johanna Mikl-Leitner Athen gar mit dem Ausschluss aus dem Schengen-Raum.
Auch abgesehen davon, dass die Schengen-Regeln einen Ausschluss nicht erlauben, ist die Forderung plump und populistisch. Zwar hat Griechenland lange zu wenig gemacht und sich stattdessen unproduktiv mit den Türken und der Frontex um Hoheitsrechte und Kompetenzen an der Grenze gestritten. Und ja, die Streitereien zwischen den Behörden haben dazu beigetragen, dass die sogenannten Hotspots zur Registrierung der Migranten viel langsamer aufgebaut werden als geplant. Dennoch zeigt sich das Land seit Monaten kooperativer und lösungsorientierter als die meisten EU-Staaten. Die Hotspots illustrieren denn auch primär, wie die EU-Staaten ihre Verpflichtungen nicht erfüllen. Von den gut 700 Grenzschützern, welche die Frontex angefordert hat, sind gerade einmal 450 im Einsatz. Das reicht für die gegenwärtige, relativ ruhige Schlechtwetterphase, doch mittelfristig ist es zu wenig. Auch die Bereitschaft, dem bankrotten griechischen Staat in der Flüchtlingskrise finanziell unter die Arme zu greifen, ist wenig ausgeprägt. Die Haltung, man habe den Griechen genug geholfen, jetzt sollten sie ihre Hausaufgaben machen, ist zwar verständlich, aber auch realitätsfern. Für Griechenland stellt die Finanz- und Flüchtlingskrise vielmehr den perfekten Sturm dar, den es alleine nicht bewältigen kann.
Im geografisch exponierten Griechenland konzentrieren sich die Probleme der europäischen Flüchtlingspolitik und auch deren Widersprüche. Einer davon ist die Tatsache, dass Griechenland offiziell beschuldigt wird, es komme seinen Registrierungspflichten nicht nach, viele Staaten aber eigentlich erwarten, dass es den Migrantenstrom klar verringert. Bezeichnend dafür ist Mikl-Leitners Aussage, es sei ein Mythos, dass die Griechen ihre Grenze in der Ägäis nicht kontrollieren – sprich: abschotten – könnten . Die Marine habe genug Kapazitäten. Was daraus folgen würde, erwähnt sie wohlweislich nicht: Es liefe daraus hinaus, die Flüchtlingsboote abzufangen und in Richtung Türkei abzudrängen? Solche «push-backs» sind völkerrechtlich unzulässig und wurden von der EU-Kommission wiederholt als Verstoss gegen europäische Werte bezeichnet. Das Mandat der griechischen Küstenwache und von Frontex ist auf die Seerettung beschränkt, was bedeutet, dass alle Migranten an Land gelangen und erst in den Hotspots überprüft werden. Die Türkei soll zwar ab Juni abgeschobene Migranten zurücknehmen, doch bleibt die Umsetzung dieses Plans bis anhin ungewiss.
Hier liegt das zweite Problem, denn selbst wenn die Hotspots bald funktionieren, bleibt ungeklärt, was mit den Asylsuchenden geschehen soll. Will man die Hotspots tatsächlich als Drehscheibe aufbauen, in der Asylanträge geprüft, Menschen ohne Asylgrund abgeschoben und andere auf EU-Länder verteilt werden, braucht es noch viel grössere Investitionen. Zu den fundamentalen inneren Widersprüchen der Hotspots gehört auch, dass man gigantische Internierungslager aufbauen müsste, damit sie wirklich als eine solche Drehscheibe funktionieren könnten. Über Sinn und Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens sowie die grossen Belastungen, die es für Griechenland bedeuten würde, wird aber kaum ehrlich gesprochen.
Angesichts dieser ungeklärten Widersprüche und des wachsenden politischen Drucks, den die Krise auf die Länder der Balkan-Route ausübt, erscheinen die Isolierung Griechenlands und die Abriegelung Europas an der geografisch günstigeren Nordgrenze des Landes durchaus verführerisch. Liesse man allerdings Griechenland in seiner existenziellen Krise im Stich, wäre dies politisch und moralisch, aber angesichts der Hilfspakete für das Land auch wirtschaftlich eine Bankrotterklärung Europas. Der Lösung der Flüchtlingskrise käme man damit zudem keinen einzigen Schritt näher.
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