Der NRW-Landtag will aufklären, warum die massenhaften sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht nicht verhindert wurden. Erste Zeugen und Dokumente offenbaren beunruhigende Versäumnisse.
Die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss konnten kaum glauben, was der Zeuge ihnen da erzählte. In der Silvesternacht 2015 war Polizeihauptkommissar Marco S. der ranghöchste Diensthabende in der Leitstelle des Polizeipräsidiums Köln, dort wo alle Infos über die Vorkommnisse in der Stadt eingingen und bewertet wurden. „Als ich meinen Dienst um 6 Uhr beendet habe, wusste ich nichts von Antänzern und Sexualdelikten. Ich weiß, dass das unverständlich klingt, aber ich verstehe es auch nicht”, sagte der 41-Jährige vergangene Woche. Er hätte damals alles wissen müssen – „aber ich wusste es nicht”, räumte Marco S. zerknirscht ein.
Seine Aussagen sind symptomatisch für die Abläufe in der Silvesternacht, und FDP-Parlamentarier Marc Lürbke fasst die Stimmungslage im Ausschuss treffend zusammen: „Ich bin durchaus erschüttert. Es kann einem wirklich angst und bange werden, ob die Kommunikationswege tatsächlich funktionieren.”
Seit einigen Wochen vernimmt der Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht im Landtag Nordrhein-Westfalen Verantwortliche als Zeugen, sichtet Dokumente und will aufklären, warum die Polizei die zahlreichen sexuellen Übergriffe und Diebstähle zum Jahreswechsel nicht verhindert hatte, warum der Einsatzverlauf zunächst verharmlost wurde und warum die Landesregierung erst Tage später öffentlich reagiert hatte.
Die Suche nach Versäumnissen, Fehlern und Vertuschungen wird den Ausschuss noch bis zum Jahresende beschäftigen. Es ist bereits erkennbar, dass nicht allein individuelles Versagen in Betracht kommt, sondern dass eine für Laien kaum zu durchschauende Behördenstruktur ein rasches, effizientes Handeln erschwert. Es stellt sich die Frage, ob Sachverhalte bewusst abgeschwächt oder verschleiert wurden.
Im Vorfeld bereits vor „Tumultdelikten” von „Nafris” gewarnt
Die „Dimension” der massenhaften sexuellen Übergriffe mag nicht vorzusehen gewesen sein, wie Polizei und Landesregierung immer wieder beteuern. Dennoch wurden im Vorfeld der Silvesternacht besondere Probleme mit nordafrikanischen Intensivtätern, kurz „Nafri”, erwartet.
Im Entwurf für die Anforderung zusätzlicher Kräfte an Silvester, welche die Polizei Köln an die übergeordnete Landeszentrale für Polizeiliche Dienste (LZPD) schicken wollte, wurde vor „Tumultdelikten” durch die „Täterklientel Nafri” gewarnt, die mit Diebstählen und Körperverletzungen den Sicherheitsbehörden seit längerer Zeit enorme Probleme bereiten.
In der offiziellen Kräfteanforderung ans LZPD war dieser Zusatz dann nicht mehr enthalten. Wer dies gestrichen hatte, ist noch unklar. CDU-Abgeordnete Ina Scharrenbach äußerte die Vermutung, dass dies „in vorauseilendem Gehorsam” geschah.
Durch diese wesentliche Entschärfung entfiel jedenfalls ein Argument, Köln die erwünschte Menge an Beamten zur Unterstützung bereitzustellen. Im Ausschuss wurde auch ein grundsätzliches Problem deutlich: Es gibt landesweit zu wenig Personal bei der Polizei. Dies hat das LZPD gegenüber Köln auch angemerkt. Köln bekam letztlich zwar mehr Beamte als in früheren Silvesternächten, aber doch weniger als angefordert.
Erster Hinweis auf Exzesse am Neujahrsnachmittag
Die Abgeordneten versuchen zu verstehen, warum auch nach der verheerenden Silvesternacht wesentliche Informationen nicht weitergereicht wurden bzw. warum es verspätete Reaktionen gab, obwohl die Brisanz ab dem Neujahrsnachmittag erkennbar wurde.
Nach ersten harmlosen Darstellungen am Morgen ohne Erwähnung sexueller Übergriffe findet sich Stunden später ein erster Hinweis auf die Exzesse in einer WE-Meldung (polizeiliche Abkürzung für „Meldung über ein wichtiges Ereignis”) mit der Überschrift „Vergewaltigung, Diebstahlsdelikte, Raubdelikte, begangen durch größere ausländische Personengruppe”.
Darin meldet die Polizei Köln elf sexuelle Übergriffe auf Frauen, mit dem Zusatz, dass einer 19-Jährigen Finger in Körperöffnungen eingeführt worden seien. „Die Tätergruppe wurde einheitlich von den Opfern als Nordafrikaner im Alter zwischen 17 und 28 Jahren beschrieben. Die Ermittlungen dauern an. Von weiteren Anzeigeerstattungen im Laufe des Tages ist auszugehen”, heißt es in der WE-Meldung.
Wichtiger Mitarbeiter im Ministerium erkannte Brisanz
Das Ausmaß der sexuellen Exzesse war da noch nicht absehbar, wohl aber die Brisanz, zumal Polizei und Landesregierung betonen, dass es dieses „Phänomen” europaweit so noch nicht gegeben habe. Die WE-Meldung aus Köln erreichte am 1. Januar das Lagezentrum des NRW-Innenministerium und wurde um 14.36 Uhr an führende Personen im Haus geschickt, auch an Landesinnenminister Ralf Jäger (SPD) persönlich.
Der Leiter der Abteilung Polizei im Ministerium, Wolfgang Düren, hat bereits eingeräumt, dass er die WE-Meldung damals für „politisch bemerkenswert” gehalten habe, aber erst den „Fortgang der Dinge” habe abwarten wollen. Jäger selbst verteidigte sein Nichthandeln damit, dass das Ausmaß am Neujahrstag noch nicht erkennbar gewesen sei.
Der Untersuchungsausschuss weiß mittlerweile noch mehr: Die WE-Meldung wurde auch an wichtige Personen in der Staatskanzlei von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) geleitet, unter anderem an Regierungssprecher Thomas Breustedt, an die Amtschefin im Büro der Ministerpräsidentin, Anja Surmann, und ans Vorzimmer des Chefs der Staatskanzlei, Franz-Josef Lersch-Mense. „Aufgrund der exponierten Örtlichkeit und dem möglichen Sachzusammenhang mit der Flüchtlingsthematik schien eine Informationssteuerung an die Staatskanzlei geboten”, erklärte das NRW-Innenministerium gegenüber dem Kölner „Express„.
Hannelore Kraft soll erst am 4. Januar informiert worden sein
Obwohl der innersten Zirkel der Regierungschefin an Neujahr informiert wurde, hat sich die Ministerpräsidentin nach bisheriger Darstellung drei Tage später, am 4. Januar, um 13.41 Uhr telefonisch erstmals mit ihrem Innenminister über die Exzesse in Köln ausgetauscht.
Es wird schwer sein, zu erforschen, ob es frühere Kontakte gegeben hat und wer mit wem wann dazu kommuniziert hat, denn die Staatskanzlei hat essentielle Informationen, etwa die Mailkommunikation zwischen Ministerpräsidentin und Regierungssprecher, nicht an den Untersuchungsausschuss geschickt und für „arkan”, also geheim, erklärt.
Damit beruft sich die Staatskanzlei auf eine besondere Vertraulichkeit, weil sonst angeblich die Funktionsfähigkeit der Regierung gefährdet sei. Freilich widerspricht dies der Ankündigung, man wolle eine „lückenlose Aufklärung” leisten.
Am kommenden Montag sollen zwei Kriminalhauptkommissare im Untersuchungsausschuss aussagen, die nach eigenem Bekunden dem „Stornierungswunsch” einer übergeordneten Behörde nicht nachgaben. Sie setzten durch, dass in der WE-Meldung vom Neujahrsnachmittag, die erstmals auf sexuellen Übergriffe hinwies, das Wort „Vergewaltigung” enthalten blieb – ebenso wie jener Zusatz, dass einer 19-Jährigen Finger in die Körperöffnungen eingeführt wurden.
Am 9. Mai muss NRW-Innenminister Ralf Jäger als erster prominenter Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss aussagen.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article154909925/Polizei-war-schon-frueh-vor-Taeterklientel-Nafri-gewarnt.html