Orbans stetes Beschwören einer Gefahr
«Show-Business»
Dass die Regierung Vorkehrungen treffen muss, ist weitgehend unbestritten, regierungskritische Medien bemängelten jedoch die Inszenierung. Die Zeitung «Nepszabadsag» bezeichnete sie als «Show-Business» und politisches Marketing. Verschiedene Beobachter äusserten den Verdacht, es würden absichtlich Ängste bei der Bevölkerung geschürt, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Denn während noch im Herbst die harte Haltung in der Flüchtlingspolitik der Regierungspartei Fidesz ein Hoch in den Umfragen bescherte, scheint seit dem Versiegen des Zustroms von Migranten die stete Beschwörung einer externen Bedrohung bei der Bevölkerung nicht mehr wirklich zu verfangen. So haben Skandale und die manifeste Bereicherung von Personen im Umfeld Orbans die Werte des Fidesz laut einigen Instituten zurückgehen lassen, und die Partei hat vor einem Monat eine Bürgermeister-Ersatzwahl in der nordungarischen Kleinstadt Salgotarjan unerwartet deutlich verloren.
Am augenfälligsten ist jedoch der breite Zuspruch, den eine Bewegung von Lehrern für ihren Protest gegen Missstände im Bildungssystem erhält. Am Nationalfeiertag vor zwei Wochen gingen trotz nasskaltem Wetter bereits zum zweiten Mal Zehntausende auf die Strasse. Es war die grösste Manifestation seit den Massendemonstrationen gegen eine geplante Internetsteuer vor anderthalb Jahren. Pädagogen, NGO, Eltern und Studenten forderten weniger Bürokratie in den Schulen, eine Rücknahme der unter Orban beschlossenen Zentralisierung des Bildungssystems, mehr Ressourcen und Freiheit in der Wahl der Lehrmittel. Der Anführer der Bewegung, der Budapester Gymnasiumsdirektor Istvan Pukli, verlangte in seiner Rede binnen acht Tagen eine Entschuldigung Orbans für die «Erniedrigung in den vergangenen sechs Jahren». Letzte Woche verstrich das Ultimatum – selbstverständlich unerfüllt. Heute wollen deshalb die Lehrer ihre Arbeit zeitweise niederlegen.
Gegen das System Orban
Eine Umfrage des Magazins «HVG» ergab, dass 76 Prozent der Befragten die Forderungen der Pädagogen unterstützen. Dennoch ist die Protestbewegung nicht allein mit den Missständen im Bildungswesen zu erklären. Sie richtet sich inzwischen vielmehr gegen das System Orban an sich: die Machtkonzentration in den Händen weniger, die konfrontative Aussenpolitik, Klientelwirtschaft und die Entwicklung hin zu einer «illiberalen» Demokratie. Eine vergleichbare Dynamik war bereits bei den Demonstrationen gegen die Internetsteuer zu beobachten.
Fidesz-Politiker und regierungstreue Medien werfen den Demonstranten denn auch vor, dass es ihnen nicht um spezifische Probleme im Bildungssektor, sondern um Parteipolitik gehe. Vorerst bedeutet der Protest auch keine grosse Gefahr, die nächste wichtige Wahl findet erst in zwei Jahren statt. In einem Interview mit der konservativen Zeitung «Magyar Nemzet» gibt der bekannte Politologe Gabor Török allerdings zu bedenken, die Flüchtlingskrise habe von den wahren Problemen des Landes abgelenkt. Wenn sie aus den ungarischen Schlagzeilen verschwinde, werde der Fidesz wieder auf die niedrigen Popularitätswerte von vor gut einem Jahr absacken. Das Gefühl der Bedrohung, das Orban auch in seiner Rede am Nationalfeiertag mit apokalyptischen Szenarien beschwor, lasse sich nicht über zwei Jahre lang aufrechterhalten. Derzeit herrsche der Eindruck vor, die Regierung verteidige zwar die Grenzen, kümmere sich aber nicht um innenpolitische Themen, erklärt Török. Diese werden aber vermutlich die nächste Wahl entscheiden.
Forrás: http://www.nzz.ch/