Theologe Richard Schröder (SPD) fordert mehr Abschiebungen von nicht bleibeberechtigten Migranten und warnt, Flüchtlingen falsche Hoffnungen zu machen. Der Staat müsse gerecht sein – nicht barmherzig.
Theologe, Philosoph, Politiker: Schon immer war Richard Schröder ein unabhängiger Kopf – etwa als evangelischer Pfarrer in der DDR oder als Fraktionsvorsitzender der SPD in der letzten Volkskammer. Heute ist der 72-Jährige Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung sowie Chef des Fördervereins Berliner Schloss.
Die Welt: Die Deutschen gelten eigentlich als politisch konsensorientiert, mögen weder Streik noch Streit. Wie erklären Sie sich den enormen Zuspruch für die AfD?
Richard Schröder: Vor allem im Osten Deutschlands ist die Angst vor dem Fremden groß. Man hat Angst vor dem, was man nicht kennt. Das gilt auch für den Osten Europas. Aber keine Partei im Bundestag artikuliert diese Angst. Das ist ein Problem. Im Parlament muss zur Sprache kommen, wovor Menschen Angst haben. Wenn die etablierten Parteien das versäumen, tun es andere – und ernten Zuspruch.
Die Welt: Ängste sind oft irrational. Welche berechtigten Sorgen sehen Sie?
Schröder: Der Spruch „Die nehmen uns Arbeit und Wohnungen weg” gilt nicht für die Flüchtlingshelfer aus der Mittelschicht. Sozial Schwache könnten durchaus die Konkurrenz zu spüren bekommen bei einfachen Jobs und billigem Wohnraum. Es mag alles maßlos übertrieben sein, aber völlig grundlos ist es auch nicht.
Die Angst vor einer Islamisierung Deutschlands ist irrational. Aber man darf schon fragen: Wie viel Prozent der 30-Jährigen in Deutschland sind bereits muslimischeFlüchtlinge? Denn von denen kommen ja besonders viele. Bei dieser Altersgruppe könnten 50 Prozent schneller erreicht werden, als man denkt. Wer dies genauer wissen will, ist deshalb noch kein Ausländerfeind.
Die Welt: Haben Politik und Gesellschaft im Herbst 2015 Erwartungen geweckt, die nicht einlösbar sind?
Schröder: Der Fehler ist älter. Über die Jahre hin wird etwa die Hälfte derer, die zu uns kommen, nicht als Flüchtling anerkannt. Trotzdem wurden nur zehn Prozent von ihnen abgeschoben.
Die Welt: Etliche allerdings reisen freiwillig aus.
Schröder: Ja, nämlich weitere zehn bis 15 Prozent. Aber im Ausland heißt es: In Deutschland gibt es genug Tricks, um zu bleiben. Wir haben dem Gerücht „Wer nach Deutschland kommt, darf bleiben” nicht wirksam widersprochen, obwohl die Rechtslage immer klar war. Wenn wir die Rechtslage nicht durch Tat und Bild sichtbar vollziehen, wird sie uns nicht geglaubt.
Dann können Schlepper weiter verbreiten: Wer nach Deutschland kommt, erhält ein Haus und 3000 Euro Handgeld. Wenn sie stattdessen zunächst in einer Turnhalle unterkommen, ist die Enttäuschung groß. Es gibt unter Migranten den Spruch: Die Deutschen kann man leicht betrügen. So etwas ist Gift für das Ansehen des Rechtsstaats. Hilfsbereitschaft darf nicht als Schwäche missdeutet werden. Güte muss sich deshalb mit Strenge paaren, sonst machen wir uns zum Affen.
Die Welt: Viele kritisieren Kanzlerin Angela Merkel für ihre Entscheidung vom September 2015, die Flüchtlinge aus Budapest aufzunehmen. War das ein Pull-Faktor?
Schröder: Ja. Um zu signalisieren, dass es sich um eine Ausnahme handelt, hätte die Kanzlerin besser Busse schicken sollen, und wenn die Busse voll sind, dann ist das Kontingent erschöpft. Mit dem Ausdruck „Willkommenskultur” haben wir zudem den Eindruck erweckt, alle seien willkommen.
Wer die Euphorie bedenklich fand, dem wurde entgegengehalten: „Wir wollen doch niemanden abschrecken.” In Wahrheit sollten wir diejenigen abschrecken, die nicht werden bleiben dürfen, damit sie ihr Geld nicht an Schlepper verschwenden – und sich nutzlos einer Lebensgefahr aussetzen. Die, die bleiben dürfen, sollten wir willkommen heißen.
Die Welt: Einerseits will die Bundesregierung nicht mehr so viele Flüchtlinge aufnehmen wie 2015, andererseits beschuldigt sie Österreich und die Balkan-Staaten für ihre „nationalen Lösungen”. Ist das nicht bigott?
Schröder: Man könnte mit Hegel von der List der Vernunft sprechen. Die Kanzlerin wollte eine europäische Lösung und lehnte nationale Maßnahmen ab. Die anderen sagten, wir machen unser eigenes Ding, und bauten Zäune.
Es kamen heraus: ein guter Ansatz für eine europäischen Lösung, das Abkommen mit der Türkei. Ohne die Zäune wäre es dazu wohl nicht gekommen. So hat jeder seinen Beitrag geleistet, und der Flüchtlingsstrom flaut ab.
Die Welt: Sie sprechen von einem „Flüchtlingsstrom”, vergleichen also Menschen mit einem gefährlichen, potenziell mörderischen Wasserlauf.
Schröder: Was haben Sie dagegen? Der Vergleich mit einem Strom passt leider. Menschenmassen haben etwas Unwiderstehliches. Wenn irgendwo eine Panik ausbricht, erweisen sich Menschenmassen wie eine Naturkraft, die durch Dialog und gutes Zureden nicht zu stoppen ist.
„Einzeln haben wir keine Chance, zu Tausenden schaffen wir es”, war auf einem Flugblatt in Idomeni zu lesen. Gemeint war der Grenzdurchbruch.
Die Welt: Dort hat Norbert Blüm auf das Elend aufmerksam machen wollen. Zu Recht?
Schröder: Seine Handlung verdient Respekt. Seine Verheißung, die Flüchtlinge müssten nur nach Deutschland kommen, dann dürften sie bleiben, widerspricht aber der Rechtslage. Man soll Menschen im Elend keine falschen Hoffnungen machen.
Die Welt: Kirchen, Teile der Gewerkschaften und andere fordern ein stärkeres Engagement des Staates für die Geflohenen, mehr Barmherzigkeit …
Schröder: Die Kirchen können von ihren Mitgliedern mehr Barmherzigkeit verlangen. Von Barmherzigkeit, vom Herz für die Elenden kann es nicht genug geben. Der Staat aber darf nicht barmherzig sein. Der Staat muss gerecht sein. Er hat nach Regeln zu handeln, und er hat die Folgen zu bedenken.
Der Barmherzige fragt nicht viel, er hilft. Er sieht in die Augen der Kinder von Idomeni und sagt, „Kinderaugen lügen nicht”, und will sie hierherholen. Den Politiker mögen die Kinderaugen genauso rühren, er aber muss fragen: Was passiert, wenn ich heute 10.000 Menschen hierherhole?
Dann nämlich sind morgen weitere 10.000 Menschen da, die auch nach Deutschland wollen. Kurzum: Wenn der Staat barmherzig wäre, wäre er korrupt, denn er würde Ausnahmen machen. Der Barmherzige darf das.
Die Welt: Was dem Papst erlaubt ist, ist dem Politiker also verboten?
Schröder: Als Kirchenoberhaupt darf er ein Zeichen setzen, wenn er nun zwölf Menschen Zuflucht gewährt. Politiker sollten solche Zeichen nicht setzen. Als Staatsoberhaupt kann er ihnen zudem die notwendigen Genehmigungen ausstellen lassen, auch wenn sein Staat in einer Stunde durchwandert ist. Das können andere Kirchenoberhäupter nicht.
Die Welt: Sie mokieren sich, wenn die „Festung Europa” kritisiert wird. Warum?
Schröder: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsverfassung definieren einen Staat. Einen Staat ohne Grenzen kann es nicht geben. In einem Europa ohne interne Grenzen müssen wir an den Außengrenzen entscheiden, wer reinkommt und wer nicht – wir brauchen also eine „Festung” mit großen Toren und mit Einlasskontrolle.
Wenn wir diese Kontrolle verlieren, kann eine staatliche Ordnung nicht funktionieren. Und schon gar nicht ein Sozialstaat. Unbegrenzte Zuwanderung bedeutet unbegrenzte Ausgaben ohne entsprechende Einnahmen.
Die Welt: Warum ist Deutschland ein Einwanderungsgesetz bisher misslungen?
Schröder: Vor allem, weil die CDU das Motto „Wir sind kein Einwanderungsland” wie eine Monstranz vor sich hertrug. Gastarbeiter und deren Familiennachzug waren zunächst die Hauptthemen. Zugleich haben wir bei den Flüchtlingen geschlampt. Man hat die Einbürgerung von Flüchtlingen als Einwanderung verstanden.
Bis heute ist, wie mir scheint, vielen der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Einwanderern nicht so richtig klar. Flüchtlinge fliehen vor einer Gefahr und bleiben, bis sie vorbei ist. Einwanderer wollen ihre Lebenschancen verbessern, da dürfen wir Bedingungen und Obergrenzen nach unseren nationalen Interessen definieren.
Die Welt: Ist die Bundesregierung mit der Ermächtigung zu einem Strafverfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann vor dem türkischen Präsidenten Erdogan eingeknickt?
Schröder: Paragraf 103 StGB verpflichtet die Politik, was sie sonst nicht darf: entscheiden, ob die Justiz tätig werden darf oder nicht. Hätte die Bundesregierung Nein gesagt, hätte sie eine juristische Frage entschieden. Statt dessen überlässt sie nun die Frage der Justiz. Das ist Gewaltenteilung.
Die Welt: War es klug, dass Angela Merkel Böhmermanns Gedicht gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten „bewusst verletzend” genannt hat?
Schröder: Geschickter wäre gewesen, sie hätte gesagt: „Wissen Sie, Herr Davutoglu, was ich persönlich von dem Gedicht halte, das behalte ich für mich.” Die Kanzlerin war direkter.
Die Welt: Sie kennen Luthers Schriften gut. Dessen Schmähkritik am Papst fiel ja nicht wesentlich eleganter aus als Böhmermanns Gedicht …
Schröder: Allerdings leben wir nicht mehr in Luthers Zeiten. Luther und Thomas Müntzer haben sich nichts geschenkt. So war es damals üblich: maßlos, unflätig, auf Stammtischniveau. Erasmus von Rotterdam war eine rühmliche, vornehme Ausnahme.
Die Welt: Satire und Ironie sind Errungenschaften des Westens, verankert in christlich geprägten Staaten, im Judentum ohnehin. Nicht indes im Islam. Warum?
Schröder: Ich sehe diesen Umgang mit Kritik und Ironie als eine Errungenschaft der Nachkriegszeit. Noch in der Weimarer Republik wurde in Deutschland bei berechtigter Kritik, bei Spott oder Satire der Vorwurf der „Nestbeschmutzung” oft erhoben. Nichts Schlechtes über die eigene Familie zu sagen, dieses Gebot gilt im Islam auch für die Religion.
Man darf Mohammed nicht ironisieren – auch weil es dort keine tolerierte Religionskritik gibt. Gotteslästerung war auch in Europa lange strafbar, Majestätsbeleidigung übrigens besonders hart in den deutschen Diktaturen!
Die Welt: Wie wichtig ist der „moderne Islam” im Islam?
Schröder: Mir scheint, junge Muslime, die, anders als ihre Eltern, studiert haben, werfen ihnen vor, den „richtigen” Islam gar nicht zu kennen, und meinen damit einen Islam mit fundamentalistischen Zügen. Die jungen Leute dort sehen im bürgerlichen Islam ihrer Eltern eine halbe Sache. Übrigens fördert Saudi-Arabien mit massiven Finanzmitteln einen fundamentalistischen Islam, auch in Europa.
Die Welt: Einst hat die AfD gegen die Hilfen für Griechenland gewettert, dann gegen die Flüchtlinge, nun gegen den Islam. Sehen Sie bei der AfD einen programmatischen Kern?
Schröder: Jeder weiß, wie vielgesichtig „der” Islam ist. Welchen meint die AfD? DasBundesverfassungsgericht entscheidet grundsätzlich nicht darüber, ob eine Religion verfassungswidrig ist, denn bei uns herrscht Religionsfreiheit. Und wenn nun ausgerechnet in Deutschland als einzigem Land der Welt die Beschneidung verboten würde, würde das zu Recht als Antisemitismus pur gewertet.
Die Welt: Die AfD will auch Minarette verbieten …
Schröder: Als Joseph II. 1781 im katholischen Habsburger Reich erstmals den Protestanten erlaubte, Kirchen zu bauen, verfügte er: aber nur ohne Turm. Wollen wir die Posse ernsthaft wiederholen? Da war Friedrich der Große fortschrittlicher, als er bekannte: „Wenn die Türken kämen, so wollen wir ihnen Moscheen bauen.”
http://www.welt.de/politik/deutschland/article154741851/Ohne-Strenge-bei-Migranten-machen-wir-uns-zum-Affen.html