Vor einem Jahr verkündete Angela Merkel: „Wir schaffen das.” Doch Flüchtlingsfragen prägen Land und Politik heute wie kaum zuvor. Die Distanz zwischen Kanzlerin und Bürgern ist immer größer geworden.
Politik wird von Menschen gemacht. Und es sind Menschen, die die Folgen von Politik spüren. Und dennoch: Selten kommt es vor, dass Politiker gefragt werden, wie es ihnen mit ihren Entscheidungen geht, ja, wie es ihnen überhaupt geht.
Warum? Weil sie dem Gegenüber selten eine ehrliche Antwort geben? Die Meisterin der Ausflüchte ist die Kanzlerin höchstselbst. Allenfalls lässt sie sich zu einer ironischen Bemerkung hinreißen, etwa der, dass sie nicht unterbeschäftigt sei.
In den politischen Unwettern der vergangenen Jahre wirkte Angela Merkel stets wie der Fels, an dem alles abprallte. Genau deshalb mochten sie die Deutschen. Es waren Kontrolle und Ausgeglichenheit, die ihre zur Raute geformten Finger ausdrückten. Und heute?
Anfang der Woche wagte doch mal wieder eine Journalistin, die Frage nach Merkels Befindlichkeit zu stellen. Anlass war der Jahrestag ihres berühmten Satzes „Wir schaffen das”, der an diesem Mittwoch vor einem Jahr in der Bundespressekonferenz das erste Mal von der Kanzlerin zu hören war. Die sogenannte Flüchtlingskrise war damals längst das bestimmende Thema.
Die Kollegin richtete ihre Frage allerdings nicht an die Kanzlerin, sondern an CDU-Generalsekretär Peter Tauber, also einen, der viel mit der Parteichefin zu tun hat. Wie sich Merkel verändert habe, wollte sie wissen. Die Antwort Taubers: „Ich kann nicht feststellen, dass sie sich verändert hat.” Eine bezeichnende Aussage.
Genau dies ist der Eindruck, den viele Bürger haben: Ihre Kanzlerin hat sich nicht verändert. Doch das Land hat sich verändert, sie, die Bürger, haben sich verändert. Die Raute ist vom Symbol des Innehaltens und der Nachdenklichkeit zum Symbol der Entrücktheit, ja der Sturheit geworden.
Von Kontrolle und Kontrollverlust Angela Merkels
Als die Kanzlerin am 31. August 2015 „Wir schaffen das” sagte, nahm sie das Heft des Handelns wieder richtig in die Hand. Fast verdrängt ist, dass man sie zuvor vermisste. Ihr nachsagte, sie kümmere sich nicht um das Flüchtlingsthema. An diesem Tag stellte sie Grundsätze und Prinzipien auf, aber auch bestehende Gesetze und Regeln infrage. Sie handelte.
Dazu gehörte am 4. September die Entscheidung, Flüchtlinge, die in Ungarn gestrandet waren, über Österreich nach Deutschland einreisen zu lassen. Darüber ist viel geschrieben worden. Erstaunlich ist, dass ausgerechnet jene Handlung, die wie keine zuvor in ihrer Kanzlerschaft Autorität und Macht einer Regierungschefin unter Beweis stellte, heute als das krasse Gegenteil interpretiert wird: als Beweis des Kontrollverlusts, als Aufgabe aller Gewissheiten.
Die Physikerin Angela Merkel, die am 9. November 1989 mit eigenen Augen gesehen hatte, was passiert, wenn man eine Grenze ein bisschen durchlässiger machen will, wiederholte als Regierungschefin diese Versuchsanordnung. Das hatte man von ihr nicht erwartet. Da ging ein Stück Urvertrauen verloren. Das hatte Folgen.
Der Aufstieg der AfD – trotz der Skandale
Der Deutschlandtrend von Infratest Dimap weist für den August 2015 folgende Werte aus: Union 42 Prozent, AfD vier Prozent. Der Machtkampf innerhalb der Partei, in dem sich Frauke Petry im Juli gegen den Gründer Bernd Lucke durchsetzte, hatte ein letztes Mal dem alten politischen Gesetz Geltung verschafft, wonach interner Streit Gift für eine neue Partei ist. Manche Umfrageinstitute reihten die AfD schon unter die Sonstigen ein. Dann kam „Wir schaffen das”.
Aktuell steht die AfD laut Infratest bei 13 Prozent (26. August). Die Union bei 33 Prozent. Die Rechtspopulisten sind zuletzt in alle Landtage eingezogen und werden bei der Wahl am kommenden Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern vielleicht vor der CDU landen.
Das vergangene Jahr hat dem erwähnten Gesetz seine Allgemeingültigkeit genommen: Noch immer streitet die AfD ja, sie hat veritable Skandale zu bieten, sie pestet gegen die Fußballnationalmannschaft und hat Vorsitzende, die sich auf den Tod nicht ausstehen können.
Allein: Es ist vielen Wählern egal. Sie wählen sie trotzdem. Vertrauen scheint keine entscheidende politische Kategorie mehr zu sein. Trägt Merkels Handeln und Reden daran Schuld?
Willkommenskultur weicht Zynismus
„Wir schaffen das” ist ein maßlos verallgemeinernder Satz. In seiner Kürze liegt so viel Würze, dass seine ständige Wiederholung fast zwangsläufig dazu führt, dass er sarkastisch klingt. Und so wird er heute vor allem gebraucht: als boshafter Anti-Merkel-Slogan. Aber auch andere Sätze und Begriffe haben Wandlungen erfahren. Kaum etwas hat in dem einen Jahr so gelitten wie die Sprache.
Im Mai etwa sagte CSU-Chef Horst Seehofer: „Das Ende der Willkommenskultur ist notariell besiegelt.” Niemand stößt sich mehr daran, wenn von „Abschiebung” die Rede ist. Als „Gutmensch” gilt, wer noch von „Rückführung” spricht. Im August 2015 scheuten manche selbst das Wort „Flüchtlinge”, sie hießen englisch „Refugees”, im Deutschen wurden daraus „Schutzsuchende”. Heute sind sie wieder alle „Asylbewerber”, manchem rutschen ungestraft die „Asylanten” raus.
Die AfD bedient sich indes schon bei Nazi-Vokabeln. Die Thüringer Abgeordnete Wiebke Muhsal warf Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) vor, den „Volkstod” zu lieben, weil dieser illegale Einwanderer anerkennen wolle.
Selbst Innenminister Thomas de Maizière (CDU) nutzt den Begriff „Überfremdung”. Stets geht es ihm dabei zwar darum, die „Sorge vor Überfremdung” anzusprechen. Gleichwohl, vor 2015 taucht das Wort in den Verlautbarungen des Ministeriums nur einmal auf. 2016 dagegen bereits fünf Mal.
Das klingt dann etwa so: „Man kann von mir aus … Sorge vor Überfremdung haben, das mag alles irgendwie ein Motiv sein, aber es gibt … überhaupt keinen Grund, auf Menschen einzuschlagen.” Vieles ist seit dem letzten August sagbar geworden, das vorher unsäglich war.
Das Kanzleramt gilt als Wagenburg
Anders redet dagegen das Kanzleramt. Dort kam Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) einen Monat nach „Wir schaffen das” zu seiner Funktion als Flüchtlingskoordinator. Er sollte die Krise managen, verwalten und natürlich auch kommunizieren.
Diese Kommunikation zeichnet sich heute vor allem durch Relativierungen aus. Am Dienstag, kaum drei Tage nachdem sich Merkel in Osteuropa zahlreiche Abfuhren für ihren Plan der Flüchtlingsverteilung holte, resümierte Altmaier im Deutschlandfunk: „Ich kann nur feststellen, dass wir alle Entscheidungen in Europa, was die Bekämpfung der Fluchtursachen angeht und was die Reduzierung der Zahlen angeht, gemeinsam getroffen haben.” Warum nur steht Deutschland dann so alleine da?
Altmaiers Stellungnahmen wirken so, als seien die gefühlten Probleme und Sorgen allesamt keine echten. Seine Rolle wird innerhalb der Union mittlerweile sehr kritisch gesehen. In der CSU hält man ihm Schönfärberei vor. Das Kanzleramt gilt als Wagenburg, das die Wirklichkeit ausblendet, zumindest vor der Öffentlichkeit. Am 5. September wird sich Altmaier im niederbayerischen Abensberg ins Bierzelt stellen. Das wird spannend.
Die Türkei wurde zu einem Akteur der Innenpolitik
Altmaier preist natürlich den Flüchtlingspakt mit der Türkei. Der war am 31. August 2015 noch nicht geboren. Damals lobte Merkel nur das Bemühen des Landes, viele Flüchtlinge aufzunehmen. „Deshalb werden wir mit der Türkei Gespräche führen, wie wir gegebenenfalls helfen können, wie wir gemeinsam vorgehen können.”
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Nach „Wir schaffen das” strich die Kanzlerin fast alle Auslandsreisen, sie wollte sich ganz auf die Innenpolitik konzentrieren. Heute hat Merkel zwar ihre Auslandsreisetätigkeit wieder in altem Umfang aufgenommen. Doch eine scharfe Trennung zwischen Außen- und Innenpolitik ist nicht mehr möglich, solange es Flüchtlinge gibt.
Reist die Kanzlerin nach Tschechien oder Polen, geht es um deutsche Flüchtlingspolitik. Die Türkei ist zu einem Akteur der Innenpolitik geworden. Die Außenpolitik ist insgesamt innenpolitischer geworden oder die Innenpolitik außenpolitischer. Wie man will.
Medien berichten über Flüchtlinge als Gruppe
Und die Flüchtlinge selbst? Sie sind sichtbarer geworden. Zwar sind weniger nach Deutschland unterwegs als vor einem Jahr, die Grenzübergangsstellen sind verwaist, viele Turnhallen leeren sich, mehr und mehr Abgelehnte werden abgeschoben, auch weil nach dem August 2015 zwei Asylpakete für verschärfte Bedingungen gesorgt haben. Ein drittes hängt in der Warteschleife.
Die aber hier sind, sind im öffentlichen Raum angekommen, in Klubs, im Park, in Verkehrsmitteln. Die Glücklichen unter ihnen haben Freunde, Arbeit gefunden, die Unglücklichen suchen noch immer ein Obdach, das sie nicht mit Unbekannten teilen müssen.
Wurden im August 2015 zahllose ihrer oft berührenden Einzelschicksale von den deutschen Medien erzählt, so wird heute vor allem über die Asylbewerber als Gruppe geschrieben. Nur wenige schaffen es noch als Individuen in die Presse. Etwa Merkels „Selfie-Flüchtlinge” vom letzten Sommer, jene, die Motiv für ikonische Bilder wurden. Oder jene, die wie im Juli in Würzburg und Ansbach Anschläge verüben.
Angela Merkel verkündet noch immer: „Wir schaffen das.” Viele Bürger und politische Weggefährten, die europäischen Nachbarn, Flüchtlingshelfer fühlen sich nach diesem Jahr dagegen vor allem – geschafft. Ob die Kanzlerin irgendwann bereit ist, dieses Gefühl anzuerkennen und aufzunehmen, davon wird viel abhängen. Nicht zuletzt ihre politische Zukunft.