Nahrungsmittelproduzenten auf der Höhe der Zeit werben nicht mit Geschmack, sondern versprechen Erlösung. Wie wir in Teufels Küche kommen, wenn wir unser Essen mit Moral anreichern.
Den heimlichen Griff nach der Schokoladetafel oder der Salami als «Sünde» zu bezeichnen, ist gang und gäbe: Was und wie viel man isst, ist längst eine Gewissensfrage geworden. Aber schauen wir dabei weit genug über den eigenen Tellerrand?
Unschuldig. Es stand geschrieben, schwarz auf weiss, und vermochte mein Gewissen doch nicht zu beruhigen. Ich hatte gestohlen. Ein Sandwich der «Karma»-Linie in der linken und ein Bio-Joghurt in der rechten Hand, hatte ich in der Schlange einer überfüllten Coop-Filiale gestanden und bis zur Ankunft an der Kasse vergessen, dass zwischen Ellbogen und Rippe auch noch ein Kiwisaft der Marke «innocent» steckte. Unbezahlt verliess er in meiner Armbeuge den Laden und strapazierte fortan meinen Verstand – musste ich das Fläschchen zurückbringen, oder durfte ich den Produktenamen beim Wort und mich für entschuldigt nehmen?
Um negative Auswirkungen aufs nächste Leben brauchte ich mir dank Kauf des Karma-Sandwichs ja bereits keine Gedanken mehr zu machen. Und im Diesseits sind Freisprüche inzwischen auch ganz günstig zu erwerben: Ich entschied, mein Abendessen im Take-away des Restaurants «not guilty» zu besorgen und die Causa Kiwiklau damit ad acta zu legen.
Diffuser Schuldbegriff
Ganz gelang das nicht. Eine Strafverfolgung blieb zwar bis dato aus, einer unbehaglichen Einsicht konnte ich mich seit jenem Vorfall aber nie mehr entziehen: Die absurde moralische Etikettierung der Esswaren bringt uns in Teufels Küche. In eine kulinarische Sphäre, in der «gut» und «schlecht» auf scheinbar letztgültige Weise voneinander geschieden sind und Lebensmittelhersteller es übernehmen, die Konsumenten von einer «Schuld» zu erlösen. Worin das Vergehen besteht, wird dabei freilich niemals gesagt – von «not guilty» über «innocent» bis «Du darfst» negieren oder verschweigen die Moralproduzenten konsequent die zugleich unterstellten Missetaten und überlassen es den Essern, sich einen Reim auf ihr diffus-suggestives Vokabular zu machen.
Ist die Käuferin unschuldig, weil sie sich ans Marktgesetz hält und den Saft (normalerweise) gegen Geld tauscht? Weil sie sich den Geboten der Modewelt fügt und ihren Bauch statt mit Torten nur mit Früchten füllt? Oder weil sie dem moralischen Imperativ gehorcht und den pestizidfrei produzierenden Kiwifarmer «fair» bezahlt?
Diebstahl, Verfettung, Ausbeutung, das Spektrum möglicher Delikte ist breit und das schlimmste und zugleich elementarste noch gar nicht bedacht: das tägliche Verschlingen fremden Lebens. Wer Esswaren zusammen mit Unschuld offeriert, bringt, wie verschleiert auch immer, das Problem der existenziellen Schuld auf den Tisch und gaukelt mit hohlen, da nicht näher präzisierten Worten eine Lösung vor, die es im Leben nicht gibt.
Nur wer tötet, kann leben
Schuldüberlegungen, die die Dinge ernsthaft betrachten und beim Namen nennen, müssen ihren Ausgang nicht beim Ladendiebstahl, sondern beim Raubmord nehmen. Hunger und Durst sind die basalsten Triebe des Menschen – und die Aufnahme von Speisen «der zentralste, wenn auch verborgenste Vorgang der Macht». So jedenfalls charakterisierte Elias Canetti in «Masse und Macht» den «rätselhaften» Prozess des Essens, den wir dauernd in grösster Selbstverständlichkeit vollstrecken.
In Permanenz fällen wir aus Canettis Sicht dabei Todesurteile über etwas «Fremdes», das wir, ganz wie ein gewalttätiger Machthaber, erst ergreifen und uns einverleiben, bevor wir es durch Assimilation an uns angleichen und so seiner eigenen Existenz berauben. Würden sich die Verhältnisse umkehren und wollte man uns Menschen den Prozess machen, hätten die Ankläger ein leichtes Spiel, ballt sich unsere «ganze Blutschuld» laut Canetti doch im Kot zu einem erdrückenden Beweis: «Er ist die zusammengepresste Summe sämtlicher Indizien gegen uns. Als unsere tägliche, fortgesetzte, als unsere nie unterbrochene Sünde stinkt und schreit er zum Himmel.»
Was der Schriftsteller metaphorisch dramatisiert beschreibt, ist biologisch und nüchtern besehen nicht zu leugnen: Der Mensch lebt von der Energie an-derer Existenzen. Genau wie alle anderen Tiere ist er nicht in der Lage, Stärke aus Sonnenstrahlen zu gewinnen. Das tun die Pflanzen, und was sie an Lebenskraft speichern, eignen wir uns an, indem wir sie direkt oder qua tierische Vorfresser verspeisen und verdauen. Ob wir eine Rindshuft, eine Kichererbsenkugel oder eine aus Eigeninitiative vom Baum gefallene Birne essen, macht in dieser Übungsanlage a priori keinen Unterschied: Um selber Energie zu haben, müssen wir anderes Leben schlucken. Mit dieser Form der «Schuld» müssen wir leben. Nur dank ihr können wir leben. Sie wirklich zu sühnen, würde bedeuten, das Sterben zu wählen.
Auf dieses Grundproblem der Natur, sprich die Frage nach Leben oder Tod, die moralischen Kategorien von «gut» oder «schlecht», «schuldig» oder «un-schuldig» anzuwenden, scheint intuitiv eher abwegig; die Natur, möchte man meinen, kennt keine Moral. Und doch hat sich die Nahrung in der menschlichen Gesellschaft zu einem zentralen Moralmesser entwickelt – und dies durchaus nicht erst in neuester Zeit. Jahrhundertelang war das «richtige» Essen an Satzungen religiöser Instanzen gekoppelt, die in unseren Breiten den Biss in den Apfel zur ersten Sünde stilisierten und ihre Schäfchen zum jährlichen Fasten anhielten, derweil sie anderswo ausgewählte Tiere heiligsprachen oder auf bestimmte Art zu schlachten empfahlen.
Vom Ablassbrief zum Bio-Siegel
Dass sich die Verflechtung zwischen Nahrungsaufnahme und Schuldfrage in unseren säkularisierten Zeiten nicht gelöst, sondern vielmehr verstärkt hat, ist nur scheinbar paradox. Einmal kann sich erst eine Überflussgesellschaft das hochintensive Nachdenken über korrekte Verpflegungsweisen wirklich leisten. «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», befand Mackie Messer 1928 in der «Dreigroschenoper», und unsere gesättigten Gesellschaften geben ihm heute auf ungemein plastische Weise recht. Sodann hat der Abstieg der kirchlichen Institutionen bekanntermassen nicht zum Verschwinden von Religiosität geführt – Sinn und Orientierung an Höherem suchen viele Menschen weiterhin, einfach anderswo. Geändert hat sich, zumindest in Essensfragen, nur die Referenzgrösse: Was auf den Teller gehört, gibt den meisten Leuten kein lieber Gott mehr vor, sondern die Mutter Natur, und Absolution erteilt nicht die katholische Kirche, sondern das Bio-Gütesiegel.
«In Harmonie mit der Natur produziert» sind denn folglich auch jene «un-schuldigen» Salate, Suppen und Säfte, die einem für ein paar Franken Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen im Kombipaket verkaufen. Hinter der Berufung auf den «natürlichen» Herstellungsprozess mag nebst einer Marketingstrategie die löbliche Absicht stehen, der zum Verzehr bestimmten Fremdexistenz vor und während ihrer Verarbeitung zumindest etwas Respekt entgegenzubringen. Das Paradigma der natürlichen Harmonie bleibt deswegen nicht weniger naiv – und ist wohl gerade dadurch attraktiv. Seine Unterkomplexität bringt Ordnung in eine chaotische Welt und etwas Halt in jenes konsumgetriebene Leben, das man genauso gerne kritisiert, wie man daran teilhat. Hier das Gute, das aus der unberührten Natur kommt, dort die Zerstörung, die der industrialisierte Mensch bringt – es könnte so einfach sein; fort mit der Schuld, zurück zur Natur und in die gute alte Zeit!
Wie aus «Mamas Küche» soll daher schmecken, was uns die Moralköche mit «natürlichsten Zutaten» zubereiten. Auch ohne die Bedeutung der zum Superlativ gesteigerten Natur genau zu verstehen, darf man sagen: Das klingt fein. Könnte aber einige unangenehme Nebenwirkungen haben. Denn längst nicht alles, was Mutter Natur in Reinheit anbietet, bekommt uns Menschenkindern wirklich wohl (man denke an die Kartoffel), und zu Mamas oder Omas Zeit gab’s ziemlich wenig Abwechslung in der Küche und eher unappetitliche Mangelerscheinungen am Körper: Noch in den 1920ern grassierten etwa in der Schweiz die Kröpfe. Sie hatten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein zweifelhaftes Kennzeichen des helvetischen Alpenparadieses gebildet und verschwanden erst, als man entdeckte, dass den hiesigen Böden aufgrund eiszeitlicher Vergletscherung die jodreichen Schichten fehlten. Um das Problem zu beheben, mischte man fortan Kaliumjodid unters Speisesalz.
Natur ist weder rein noch gut
Die «natürliche» Jodarmut macht unsere Böden nicht «schlecht» – nur das, was auf ihnen wächst, etwas weniger tauglich für uns Konsumenten. Es ist immer der Mensch, der seinen wertenden Massstab anlegt, und zwar an eine Natur, die sich durch langsame Prozesse dauernd verändert und herzlich wenig darauf gibt, uns «gute» Esswaren liefern zu können. Dass der Mensch in diese Veränderungsprozesse auf zuweilen verheerende Weise mit eingreift, bleibt damit unbestritten: Seit es ihn gibt, hat er sich ganz auf seinen eigenen Nutzen konzentriert. Als Jäger und Sammler hat er zahllose Säugetierarten ausgerottet, als sesshaft gewordener Viehzüchter und Ackerbauer gewaltig grosse Gebiete entwaldet, und als industrieller Revolutionär hat er die Landwirtschaft derart produktiv gemacht, dass sie heute nur noch rund 3 und nicht wie noch vor 200 Jahren 80 Prozent seiner Arbeitsressourcen bindet.
Wer Fernsehbilder von Fabriken sieht, in denen im Akkord getötete Antibiotikaschweine auf Fliessbändern vorbeiziehen, steht vor dem wüstesten Auswuchs dieser Entwicklung. Und wer sich mit dem Kauf von biologischen Produkten auf der «guten» Seite wähnt, muss wissen, dass dort zu stehen ein immenses Privileg und der entsprechende Platz durchaus beschränkt ist. Würde die ganze Welt wie wir «Schuldlosen» auf langsam produzierenden und flächenintensiven Biolandbau setzen, dann bliebe unserem Planeten kaum noch «freie Natur» und etlichen seiner Bewohner ein (noch grösseres) Loch im Bauch.
Kurzum, blickt man über den Tellerrand, wächst die Frage nach Schuld und Unschuld in Dimensionen, in denen ein zusatzstofffreier Kiwisaft, ob bezahlt oder unbezahlt, zur grünen Groteske verkommt. Was tun? Aufhören, den Hunger nach Sinn mit Esswaren zu stillen. Ein Anfang immerhin könnte darin bestehen, das Denken versuchsweise selber zu übernehmen, anstatt in einen neuen Glauben zu fliehen und auf die erlösende Kraft der Natur zu setzen. Denn ob die jene des Himmels übersteigt, wissen nur die Götter.
Forrás: http://www.nzz.ch