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Ist Toleranz ein Wert?

Im gesamten politischen Spektrum scheint man sich einig zu sein: Werte sind es, die nottun. Auf Werte komme es an, auf Werte müsse man sich besinnen, Werte werden beschworen. Manche dieser Werte führt man ebenfalls von ganz links bis ganz rechts unentwegt im Munde. Dazu gehört der Wert der Toleranz. In seiner Botschaft zur Eröffnung der Olympischen Spiele bekundet der Papst, die Welt dürste «nach Frieden, Toleranz und Versöhnung», und in keiner Rede zum 1. August durfte die Toleranz als Joker fehlen.

Die deutsche Bundeskanzlerin mahnt Muslime angesichts des deutschen Schweinefleischkonsums: «Die Toleranz gehört schon dazu, dass wir uns in unseren Essgewohnheiten jetzt nicht verändern müssen.» Während ein SP-Ständerat zu Protokoll gibt, «religiöse Betätigungen im öffentlichen Raum dürfen stets nur in Toleranz den anderen gegenüber erfolgen», ist sich der CVP-Präsident (Verweis)immerhin bewusst, dass Toleranz dem Begriff und der Sache nach heikel ist: «Wir werden herausgefordert durch den radikalen Islamismus. Perfiderweise macht dieser sich westliche Werte wie Toleranz zunutze, um diese gleichzeitig zu bekämpfen. Von dieser falsch verstandenen Toleranz müssen wir wegkommen. Menschenrechte, Toleranz und Religionsfreiheit sind nicht verhandelbar.»

Für gewöhnlich wirft man dem politischen Gegner vor, einen falschen Begriff des jeweiligen Wertes zu haben, dessen richtige Auslegung man exklusiv für sich selbst beansprucht. Man tut so, als wären Werte etwas, was es an sich gibt. Etwas, was man bloss aufzufinden brauchte, so wie man eine seltene blaue Blume auffindet. Leider aber sind Werte nichts, was in der empirischen Wirklichkeit vorkommt wie Blumen, Autos, Menschen und Berge. Werte sind nichts, was es einfach so gibt. Werte sind nichts, wovon es nur eine einzige richtige Auslegung gibt. Werte werden gemacht – von Menschen für Menschen. Im besten Fall.

Dulden ohne Alternative?

Zunächst einmal bezeichnet der Begriff der Toleranz eine bestimmte Beziehung, nämlich die Beziehung zwischen einer Person und der Meinung, der Überzeugung, dem Glauben einer anderen Person. Wenn ein römischer Kaiser oder ein frühneuzeitlicher Fürst Toleranz übte, so duldete er Überzeugungen, Glaubenssätze von Personen – seinen Untertanen –, die nicht mit seinen eigenen Überzeugungen oder Glaubenssätzen übereinstimmten. Der Tolerierende war in einer überlegenen Stellung und hätte die Wahl gehabt, auch intolerant zu sein. Er tolerierte nicht Personen, sondern bestimmte Meinungen von Personen. Er konnte dies tun, solange er seine eigene Machtposition durch diese Meinungen nicht bedroht fand.

Anders das heute vorherrschende Verständnis von Toleranz: Darin spielen die Meinungen der Personen nicht mehr die alleinige Hauptrolle. Gegenstand der Toleranz sind nun oft die Personen selbst, etwa, weil sie eine bestimmte Herkunft oder sexuelle Orientierung haben oder einer bestimmten Ethnie angehören. Toleranz geht damit aufs Ganze; sie greift nicht mehr nur den einen Aspekt, das Meinungsgefüge, die Überzeugungen einer Person, heraus. Diesen Aspekt hielten schon die absoluten Potentaten für veränderbar: Man konnte seinem Glauben abschwören und den Glauben des Herrschers annehmen. Hingegen kann man die ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung nicht ändern. Angesichts des Unveränderlichen wird uns allen Toleranz abverlangt.

Zugleich hat sich mit dieser Ausweitung des Toleranzradius auf ganze Personen und Personengruppen das Machtgefälle zwischen Tolerierendem und Toleriertem deutlich abgeflacht: Wer Toleranz übt, hat vielfach nicht die Wahl, intolerant zu sein. Häufig genug scheint Toleranz alternativlos. Wie kann sie dann ein Wert sein?

Moralische Verpflichtung?

Befragt man die Unesco und die von ihr 1995 verabschiedete«Erklärung von Prinzipien der Toleranz», hat Toleranz als Universalwert zu gelten, als «nicht nur ein hochgeschätztes Prinzip, sondern eine notwendige Voraussetzung für den Frieden und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Völker». Toleranz ist nach Massgabe der Unesco-Erklärung also geradezu ein Heil- und Wundermittel im mitmenschlichen Umgang. Entsprechend pathetisch klingt die einschlägige Definition: «Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. [. . .] Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.»

Toleranz vermag offensichtlich alles; sie ist viel mehr als blosses Geschehenlassen und schlichte Duldung. Toleranz steht also, folgt man der Unesco, für höchste moralische Unanfechtbarkeit. Man steht staunend vor dieser geballten Erhabenheit und wagt es kaum noch, Widerspruch anzumelden angesichts der gebetsmühlenhaften Wiederholung der Toleranzappelle in Sonntagsreden. Anscheinend gehören sie zum eisernen Bestand der zivilreligiösen Liturgie in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten. Ein Schuft, wer hier die Lehre mit Leere assoziieren wollte!

Aber ganz offensichtlich bereitet Toleranz Schwierigkeiten. Vollkommene Toleranz müsste bedeuten, jede nur mögliche Person, Prägung, Verhaltensweise, Meinung oder Glaubensansicht zu akzeptieren. Beim Unveränderlichen wird man sich mehr oder weniger bereitwillig in die Toleranzforderung schicken: Die ethnische Herkunft von Menschen oder ihre sexuelle Orientierung ist unwandelbar, also wird man ihnen Duldung schwerlich verweigern können. Ganz anders hingegen bei veränderbaren Verhaltensweisen, Meinungen und Glaubensansichten. Da wäre es schlechterdings monströs zu verlangen, man müsse sie allesamt gewähren lassen: Wir würden die Meinung, dass Menschenfresserei erstrebenswert sei, ebenso zu tolerieren haben wie eine Religion, die sich die Vernichtung von Ungläubigen zur Aufgabe gemacht hat.

Grenzen der Toleranz

Treibt man Toleranz so weit, gerät man ebenso zwangsläufig in Paradoxien, wie wenn man Toleranz mit Anerkennung gleichsetzt und fordert, man müsse eben alles anerkennen, was «anders» sei. Das würde heissen, eine Meinung gleichermassen anzuerkennen wie ihr Gegenteil – die Meinung beispielsweise, Menschen seien von Natur gleich, ebenso wie die Meinung, Menschen seien von Natur ungleich.

Toleranz ist, dem Unesco-Pathos zum Trotz, offensichtlich nur in Massen sinnvoll und den Menschen dienlich. Und es hat den Anschein, als sei Toleranz in den modernen Gesellschaften, die sie unentwegt beschwören, ebenso stark beschränkt wie der Spielraum des Individuums, nach eigenem Gutdünken intolerant zu sein. Ständig reden wir davon, dass es unerlässlich sei, Fremden gegenüber Toleranz zu üben, und können es doch nicht tolerieren, dass einer nebenan raucht oder gar sein Kind schlägt. Da führt uns die vermeintlich unbedingte Toleranzforderung leicht in einen bequemen Selbstbetrug. Denn insgeheim unterscheiden wir unter dem Druck vorherrschender Überzeugungen sehr wohl ständig, wo wir Toleranz üben können und wo nicht. Und diese Unterscheidungen sind historisch wandelbar: Vor 30 oder 40 Jahren hätten wir das Rauchen oder Kinderschlagen noch klaglos hingenommen und wären dafür offen schwul lebenden Männern gegenüber höchst ablehnend gewesen. Faktisch nimmt Toleranz immer wieder andere Gestalt an und hat keinen festen Kern.

Folgt aus all diesen Toleranz-Abgründen, dass wir Toleranz als Wert gänzlich über Bord werfen sollten? Das folgt mitnichten. Denn der Wert der Toleranz liegt wesentlich in ihrem Potenzial zur Relativierung, auch zur Selbstrelativierung. Toleranz sollte, so verstanden, unter den Bedingungen der Moderne auf Einsicht gründen: nämlich auf der Einsicht, dass der Andere, dessen Ansichten ich nicht teile, diese Ansichten hat, weil er notwendigerweise einen anderen Standpunkt einnimmt, als ich einnehme. Ich toleriere diese Ansichten, wenn ich nicht gegen sie vorgehe, weil ich einsehe, dass der Andere anderswo steht als ich, und ich ihm meinen Standpunkt nicht aufzwingen kann.

Jede Wertung, damit auch jedes religiöse und politische Bekenntnis, jede Weltanschauung ist perspektivisch, weil sie davon abhängt, wie und von wo aus jemand die Wirklichkeit sieht. Der Standpunkt des Anderen ist genauso wie mein eigener Standpunkt relativ zu den jeweils eigenen Gegebenheiten. Ansichten sind relative Ansichten. Wenn ich auf die Ansichten anderer Individuen treffe, muss ich sie relativieren, ins Verhältnis zu deren Gegebenheiten setzen können. Gleichzeitig erkenne ich, dass meine Wertungen von meinen eigenen Gegebenheiten abhängen, von meinem Verhältnis zu diesen Gegebenheiten, und demnach ebenso relativ sind wie die Ansichten des Anderen.

Toleranz ist ein soziales Relativierungsvermögen und als solches nie absolut oder schrankenlos. Ich kann, von meinem Standpunkt aus, durchaus Unverhandelbares propagieren – auch wenn ich dann vielleicht doch auf Verhandlungen eintrete und den Anderen mit seinem Standpunkt und seiner Sichtweise meinem Standpunkt und meiner Sichtweise anzunähern versuche.

Nützliche Fiktion

Begreift man Toleranz als Wert, begreift man sie als regulative Fiktion. Man begreift sie als Menschenwerk, das sich durch seine situative Nützlichkeit rechtfertigt.

Toleranz ist weder eine unverrückbare Gegebenheit, noch eine unverrückbare Forderung. Sie ist Verhandlungssache. Alles ist verrückbar. Denn Menschen verändern ihre Sichtweisen und Standpunkte, weil sie im Unterschied zu Steinen und Bäumen nicht dazu verurteilt sind, stets am selben Ort zu bleiben. Menschen sind bewegliche Wesen. Ebenso sind es ihre Werte, die sie immer wieder neu konfigurieren. Weil Menschen bewegliche Wesen sind, müssen auch ihre Werte beweglich bleiben.

Der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer lehrt an der Universität Freiburg im Breisgau. Jüngst ist bei J. B. Metzler das Buch «Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt» erschienen.

http://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/wertedebatte-ist-toleranz-ein-wert-ld.109713

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