Home Newspaper NÉMET - Sprachtraining Für eine Welt ohne Pommes

Für eine Welt ohne Pommes

Für eine Welt ohne Pommes

Das Gourmet-Rebellen-Lokal The Ubiquitous Chip ist der perfekte Ort, um Glasgow von innen kennenzulernen.
Von Florian Werner
5. November 2015, 4:27 Uhr / Editiert am 7. November 2015, 12:18 Uhr DIE ZEIT Nr. 43/2015, 22. Oktober 2015

Für eine Welt ohne Pommes

Colin Clydesdale sitzt im Innenhof des Ubiquitous Chip und philosophiert über Pommes. Genauer gesagt: über die kleinen, braunen, verbrannten Krümel, die am Ende noch in den Ecken kleben, wenn man eine Schachtel Fish ’n’ Chips verspeist hat. „Sie sind total vollgesogen mit Essig und Salz”, sagt er, kratzt in einer imaginären Einwegverpackung herum und leckt sich pantomimisch die Fingerspitzen ab. „Ihr Geschmack setzt sich aus acht oder neun verschiedenen Aromen zusammen, von denen einige richtig ekelhaft sind.” Sein Mund unter dem grauen Vollbart verzieht sich zu einem breiten Grinsen. „But they’re fucking great!” Sagt Colin und lehnt sich zurück. Er lümmelt da zwischen gusseisernen Säulen, tropischen Pflanzen und Goldfischteich. Am Boden Kopfsteinpflaster, in zehn Meter Höhe eine Glaskuppel, die Atmosphäre irgendwo zwischen viktorianischem Palmenhaus und Innenhof Berlin-Mitte. Colin weiß, dass so ein Satz Wucht hat. Gerade hier, in seinem Gourmet-Rebellen-Lokal mit dem ironischen Namen „Die allgegenwärtige Pommes”. The Ubiquitous Chip ist eine Legende, verbindet gute (und pommesfreie) schottische Küche und psychedelische Kunst mit jener unaufgeregten typisch Glaswegian Bockigkeit – und ist damit der perfekte Ort, um Glasgow kennenzulernen.

Anfang der siebziger Jahre, als Colins Vater Ronnie das Restaurant im Westend von Glasgow ins Leben rief, war das Ubiquitous Chip eine Kampfansage an die kulinarische Unkultur des Landes. Wer damals hier essen gehen wollte, hatte die Wahl zwischen möchtegernmediterraner Küche oder einem der schottischen Klassiker, Haggis oder gebackenem Fisch, dazu grundsätzlich: fettige Fritten. Dann kam Ronnie Clydesdale: Er kramte längst vergessene Kochrezepte hervor, kaufte regionale Produkte, vermerkte auf der Speisekarte (sehr zum Amüsement seiner Konkurrenz), woher die verwendeten Zutaten stammten, und begründete so im Alleingang die moderne schottische Küche. Und: Er weigerte sich standhaft, Pommes zu servieren; sein Markenzeichen, seine Marotte, zumindest für 30 Jahre. Colin nickt zu einem Porträt seines Vaters an der Wand: „Danach hatte Dad das Gefühl, dass seine Botschaft angekommen war.” Nach Ronnies Tod vor fünf Jahren übernahm sein Sohn Colin, mittlerweile einer der renommiertesten Köche Schottlands, das Restaurant. Die Beilagenpolitik ist inzwischen weniger dogmatisch, das kulinarische Kerngeschäft bilden aber weiterhin Gerichte, die man beim Chipper an der Ecke vergeblich suchen würde: der Kabeljau von den Shetland-Inseln zum Beispiel mit braunen Shrimps und Austern-Sabayon. Genauso wie das Haggis, das hier auch fleischlos serviert wird und mit knusprig gerösteten Karottenflocken statt den obligatorischen neeps and tatties, dem Steckrüben- und Kartoffelpüree. „Die besten Zutaten findet man, wenn man nicht nach ihnen sucht”, sagt Colin. Zum Beispiel dieses Haferflocken-Eis, das es zum Nachtisch gibt. Man käme wohl nie auf die Idee, nach so etwas zu fragen.
Colin Clydesdale ist Ende vierzig, bärtig, bärig, trägt Jeans und ein verwaschenes T-Shirt mit Geländewagenmotiv darauf, gerade so, als sei er eben mit einem Jeep aus der Wildnis zurückgekommen, von der winzigen Hebrideninsel Colonsay zum Beispiel, wo er gern angeln geht und neue Rezepte vor sich hin probiert.

Finden, ohne zu suchen – das könnte auch für das gesamte Gastronomielabyrinth des Ubiquitous Chip gelten: Vom ersten Restaurant im Innenhof führt eine frei schwebende Treppe zu einer luftigen Galerie mit eigener Speisekarte; wer hier oben sitzt, fühlt sich dem Himmel sehr nah, was allerdings auch daran liegen kann, dass die Wolken in Glasgow oft besonders tief hängen. Von dieser Empore aus gelangt man in einen weiteren Gebäudeteil: Das luftig Wolkige verschwindet, und man landet in einem traditionellen schottischen Pub mit offenem Kamin und gefährlich großer Whiskykarte. Wer rauchen will, kann über eine Stiege das Dach erklimmen, wo Wildkräuter und Blumen für die Küche des Hauses angebaut werden. Und wer schließlich wieder den Weg nach ganz unten findet, kann sich neben dem Ausgang noch für einen Absacker ins Wee Pub zwängen, angeblich die kleinste Kneipe von Schottland. Etwas, was man zu spüren bekommt, sobald mehr als zwölf Leute drin sind. Dieses Ineinander von Pubs und Restaurants, von Stiegen, Treppen und Emporen, es wirkt wie von dem Architekturfantasten Giovanni Battista Piranesi entworfen, ist aber einfach so im Lauf der Jahrzehnte entstanden. Gebaut wurde es vermutlich im 18. Jahrhundert als Stall für die Pferde des örtlichen Bestatters. „Das Gebäude”, sagt Colin, „hat sich organisch immer weiter entwickelt, bis jeder Winkel voll war.”

Wie an den Jahresringen eines Baums ist an dem Gebäude an der Ashton Lane die Geschichte der Stadt ablesbar: Das Stück sinnfreie Mauer etwa, das heute noch im Innenhof zwischen den Restauranttischen steht, derart massiv, dass es bei keiner der Umbaumaßnahmen entfernt werden konnte, erzählt von der Nutzung des Gebäudes als Dynamitlager. Im späten 19. Jahrhundert lag die größte Sprengstofffabrik der Welt, ein wichtiger Arbeitgeber, nur rund 30 Meilen entfernt. Oder der Schriftzug auf dem Weg zur Toilette, der vom Aufbruch nach dem postindustriellen Niedergang erzählt: Work as if you live in the early days of a better nation. Nachdem Glasgow einen Großteil seiner Werften, seiner Schwerindustrie, seines Selbstbewusstseins verloren hatte, markierte die Eröffnung des Chip 1971 nicht nur einen Moment der kulinarischen, sondern auch der nationalen Neubesinnung. Ronnie Clydesdale war überzeugter Sozialist, Vorsitzender der Campaign for Nuclear Disarmament, glühender Verfechter der schottischen Unabhängigkeit. „Über ein paar Pints wurde hier öfter mal die Weltrevolution ausgerufen”, sagt sein Sohn.
Die jugendstilartige, psychedelische Typographie des Schriftzugs von der better nation trägt unverkennbar die Handschrift von Alasdair Gray. Der mittlerweile achtzigjährige Maler und Schriftsteller wohnt nur ein paar Hundert Meter entfernt und ist seit Jahrzehnten hier Stammgast. In einem seiner Theaterstücke geht die Welt unter, der Meeresspiegel steigt, Glasgow wird überflutet, der einzige Ort, der von der Apokalypse verschont bleibt, ist die Bar im oberen Stockwerk des Chip. Zahlreiche Wandgemälde zeugen von ausgedehnten Zeichen- und Zechaufenthalten des Künstlers, sie sind das Markenzeichen des Hauses: Bilder von Köchinnen, Bedienungen und Stammgästen, zwischen Weinreben und arkadischen Landschaften hingelagert, daneben ein Doppelporträt der Clydesdales, Vater und Sohn. Die Bezahlung erfolgte in Naturalien. „Mein Dad sagte: Ich hab kein Geld. Und Alasdair sagte: Ich brauche kein Geld; ich brauche was zu essen und zu trinken.” Gesagt, gemalt.

Ganz so sozialistisch geht es heutzutage nicht mehr zu. Der young British artist Michael Lacey wurde vor ein paar Jahren für ein mural ganz profan mit Geld entlohnt; die lässig-anarchische Mentalität der Clydesdales lässt sich daran ablesen, dass die Arbeit des von Top-Galerist Charles Saatchi vertretenen Künstlers an den Wänden einer schlecht ausgeleuchteten Hintertreppe versteckt ist: eine rhizomatisch wuchernde Montage aus Fotos und Bildern, auf der sich fischmäulige Wolpertinger im Schatten von Atomkraftwerken tummeln. Laceys Arbeit erinnere ihn an die Animationscollagen von Monty Python, sagt Colin und erwähnt beiläufig, dass Ober-Python Michael Palin gestern Abend hier gegessen habe. Wo genau? Er deutet mit einer vagen Geste auf den Innenhof: „No idea.” Prominente Besucher interessieren ihn nicht. Kylie Minogue und Mick Jagger waren ja auch schon da. Business as usual.

Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, wolkig und kalt, zwölf Grad und Regen. Von der postindustriellen Ödnis, die in den siebziger Jahren hier herrschte, ist die Ashton Lane mittlerweile weit entfernt; die Neuerfindung von Glasgow als Messe-, Tourismus- und Dienstleistungsmetropole ist hier erfolgreich vollzogen. Aber nur ein paar Schritte weiter ist von dem Wandel schon nichts mehr zu spüren. Ein Mann in Camouflage-Jacke und Turnhose steht da vor der Tür und bettelt, im Pub gegenüber ist das Tragen von Fußballtrikots verboten, um handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Celtic- und Rangers-Fans zu verhindern, am Ende der Gasse verdunkelt ein betonbrutalistisches Bauwerk aus den Siebzigern den Himmel. Je weiter man sich vom Ubiquitous Chip entfernt, desto mehr glaubt man, dass Alasdair Gray recht hatte: Das Ubiquitous Chip ist eine Arche.

Forrás: http://www.zeit.de

Exit mobile version
Megszakítás