Zur Mitte des Wettbewerbs werden drei Filme gezeigt, die von Tod und Trauer handeln: in Auschwitz, Japan und Italien. Das Ergebnis könnte nicht unterschiedlicher sein. von , Cannes

Géza Röhrig als Saul in "Der Sohn von Saul" von László Nemes

Géza Röhrig als Saul in „Der Sohn von Saul” von László Nemes  |  © Festival de Cannes

Nun hält der Tod Einzug in den Festivalpalast von Cannes: Gestern starb der Sohn von Saul in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Matthew McConaughey bereitete in Sea of Trees seinen Suizid vor, zu dem es dann doch nicht kommt, und heute schließlich stirbt die Filmmutter von Nanni Moretti in dessen Wettbewerbsbeitrag Mia Madre. Es waren drei Filme über Trauer von völlig unterschiedlicher Qualität. 

Am unmöglichsten schien es, einen Film im KZ Auschwitz drehen zu können, über den Holocaust an den 1,1 Millionen Menschen, die alleine dort von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Wie sollte man dafür fiktionale Bilder finden können, die nicht falsch heroisierten? Die das unfassbare Geschehen fassbar machen könnten? Ihm gar gerecht würden? Der junge ungarische Regisseur László Nemes hat das ausgerechnet in seinem Debütfilm gewagt. Seitdem wird Der Sohn von Saul als Anwärter für die Goldene Kamera gehandelt. 

Die bestechende Idee besteht darin, dass sich Nemes entschieden hat, einen extrem engen Blickwinkel für die Kamera zu wählen. Man sieht beinahe in jeder Einstellung ausschließlich das Gesicht und vielleicht noch die Schultern des Protagonisten Saul. Er ist ungarischer Jude und gehört, wie bereits im Vorspann klargestellt wird, zu einem „Sondereinsatzkommando” des Vernichtungslagers. Es ist eine jener Einheiten aus jüdischen Gefangenen, die gezwungen waren, die Ermordung der Deportierten vorzubereiten, indem sie die Menschen von der Rampe in die Umkleiden der Gaskammern bringen, entkleiden und ausrauben und später ihre Leichen verbrennen mussten. Die Männer der Sondereinsatzkommandos wurden getrennt von den anderen Häftlingen untergebracht und nach ein paar Monaten im Einsatz erschossen. 

Wir sehen also das Gesicht von Saul in Großaufnahme und in dem heute beinahe quadratisch wirkenden, alten 4:3 Leinwandformat. Es ist grau, natürlich, mit großen Schattenhöhlen, in denen wohl die Augen liegen. Man sieht sie kaum, denn Saul hält den Blick tief gesenkt. Wortlos hebt er die Arme, um den Todgeweihten den Weg anzuzeigen, er geht zwischen ihnen, ohne zu sehen, er knöpft alten Männern die Jacken auf, streift Hemden ab, hängt alles an Haken. Später wird er in der Gaskammer knien und den Boden schrubben. 

All das vollzieht der ungarische Schauspieler Géza Röhrig so starr und mechanisch, dass er wie eine Marionette wirkt. Nein, vielleicht noch nicht einmal wie eine Marionette, die ja immerhin an einen Menschen erinnern soll, eher wie ein Stück Holz. Ja, nur so ist es denkbar: Saul hat man vor seinem sicheren Tod noch seiner Menschlichkeit beraubt. 

Von dem Grauen um ihn herum erfährt man kaum etwas durch die Kamera. Wenn sie Saul folgt, sind hinter ihm wegen der geringen Schärfentiefe kaum mehr als Schemen zu erkennen: Schemen von Deportierten an der Rampe, von Menschen in den Umkleiden, von Männern und Frauen und Kindern in der Gaskammer, Schemen von ihren nackten Leichen, die zu den Verbrennungsöfen und Massengräbern gebracht werden. Ähnlich wie Saul sehen auch die Augen des Zuschauers wenig. 

Doch sowohl Saul als auch die Zuschauer müssen hören: das Gellen deutscher Befehle, den Lärm von rangierenden Wagons, das fragende Gemurmel der Deportierten, die Lautsprecher-Durchsagen der Nazis, die den Menschen, die sie in wenigen Minuten ermorden werden, warmen Tee und eine gute Arbeitsstelle versprechen, das Quietschen und das metallische Dröhnen, wenn sich die Tore der Gaskammern schließen. Die Todesschreie. Das Schleifen von nackten Körpern über den Boden, das Klatschen der nackten Körper, wenn sie aufeinandergeworfen werden. Der Sohn von Saul ist eine Dokumentation des Grauens, die sich direkt über den Hörnerv in unser Bewusstsein bohrt. 

Erzählt wird die Geschichte von Saul, dessen Mechanik durch ein ungewöhnliches Ereignis zerbricht: Ein Junge überlebt die Gaskammer. Ein SS-Arzt ermordet ihn daraufhin eigenhändig. In diesem Kind erkennt Saul seinen Sohn wieder. Der Film handelt im Folgenden vor allem davon, wie Saul ihn vor dem Verbrennungsofen retten und bestatten will. 

Wie viel Ungeheuerlichkeit sich in diesem Wunsch verbirgt, enthüllt sich erst nach und nach, wenn auch der Zuschauer schon zu glauben beginnt, was ein Mitgefangener Saul einmal vorwirft: dass Saul für die Toten die Lebenden aufgibt. 

„The Sea of Trees” – die Tragik kommt nicht an

„Ein Fest auf das Leben” wollte Gus van Sant mit seinen Wettbewerbsbeitrag The Sea of Trees feiern. Auch wenn es erst einmal darum geht, dass sich Arthur Brennan (Matthew McConaughey) umbringen will. Dazu fliegt er eigens nach Japan, an den Fuß des Fuji, weil sich dort ein Wald erstreckt, das titelgebende „Meer der Bäume”, der den Japanern aus verschiedenen Gründen als idealer Ort zu diesem Zwecke erscheint – und jetzt eben auch Arthur, der sich das auf Wikipedia ergoogelt hatte.

Seine Frau ist gestorben und das mag tatsächlich für manchen der traurige Anlass sein, sich umzubringen. Doch alles, was wir über Arthur und seine Ehe in Rückblenden erfahren, bringt uns diese Tragik nicht nahe. Er wusste nicht, wo das Backpulver steht, hören wir da. Und er findet auch nicht den Lippenstift für sie im Handschuhfach. Schlimm, fürwahr. Und außerdem wirft sie ihm in einem ihrer kleinlichen Streits vor, nicht genug Geld zu verdienen. Nun ja, für ein präsentables Ferienhaus mit Seezugang hat es offensichtlich gereicht. Aber was nützt das Jammern, wenn plötzlich ein Hirntumor diagnostiziert wird? Genau, dann ist die Sache mit dem Backpulver nur noch halb so wichtig und man bricht in Tränen aus, weil man den anderen nie gefragt hatte, welche dessen Lieblingsfarbe war. Arthur fliegt also mit Pillen nach Japan in den Wald. 

Dort stößt er auf den Japaner Nakamura, der sich vor zwei Tagen die Pulsadern aufgeschlitzt hat, weil seine Firma ihn in eine andere Abteilung versetzt hat. Jetzt bereut er das allerdings und will wieder nach Hause zu Frau und Kind. Arthur beschließt, als letzte gute Tat diesen Mann zu retten. Und rettet sich am Ende selbst. 

Möglicherweise hätte das ein stilles, nachdenkliches Stück Kino über Trauer werden können. Vielleicht sogar über die unterschiedlichen Kulturen, mit dem Tod umzugehen. Aber diese Chance wurde hier vollständig vergeben. Es wurde ein Film, den eine wirklich zähe Masse aus metaphysischem Kitsch zusammenhält. So lautes „Buh!” gab es am Ende eines Wettbewerbsfilms in den letzten Jahren selten. Ein Bravo hätte wenigsten McConaughey verdient, der hier immerhin seine große schauspielerische Wandlungsfähigkeit beweist.

Forrás: http://www.zeit.de/kultur/film/2015-05/filmfestspiele-cannes-auschwitz-japan-italien

 

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