Während nach dem Brexit-Votum in Brüssel und in Berlin die Krisenstäbe zusammentraten, passierte in London: nichts. Cameron ist abgetaucht, Johnson spielt Cricket. Es erhärtet sich ein böser Verdacht.
Nichts ist so ungewöhnlich in diesen modernen, lauten, von Nachrichten übersättigten Zeiten wie Ruhe. Die trügerische Stille, die seit Freitagvormittag über dem Londoner Regierungsviertel liegt, ist geradezu unheimlich. Und je länger sie anhält, desto offensichtlicher wird das Ausmaß der britischen Staatskrise.
Seit der frenetischen Folge von Katastrophen infolge des Brexit-Votums herrscht vonseiten der Regierung Funkstille. Kurz nachdem das Ergebnis des EU-Referendums bekannt geworden war, verlor Großbritannien seine politische Führung: Premierminister David Cameron gab bekannt, dass er spätestens im Oktober zurücktreten werde. Bis dahin wird das Land also von einer machtlosen „lame duck” regiert, einer „lahmen Ente”.
Gleichzeitig brachen die Märkte ein, das Pfund fiel auf ein historisches Tief, und Boris Johnson schürte die allgemeine Verunsicherung, indem er im Namen des siegreichen Brexit-Lagers bekannt gab: Man habe es nun doch nicht mehr so eilig mit dem Beginn der Austrittsverhandlungen.
Das war der Stand der Dinge am Freitagmittag. Während daraufhin in Brüssel und in Berlin Aktionismus ausbrach, die Krisenstäbe zusammentraten, zur Eile gedrängt und vielstimmig dem Wunsch Ausdruck gegeben wurde, man wolle so schnell wie möglich reagieren, der Dinge Herr werden, die Positionen abstecken und die Verhandlungen beginnen, passierte in London: nichts. Ein beispielloses Machtvakuum macht sich breit.
Keiner der Hauptverantwortlichen für das Referendum und dessen Ausgang tritt mit klärenden Worten an die Öffentlichkeit: weder der Premierminister noch sein Stellvertreter, Schatzkanzler George Osborne. Auch nicht Boris Johnson, der Herausforderer. Sie sind abgetaucht. Die Funkstille war schwer erträglich.
Johnson spielt erstmal Cricket
Die Nachrichtensprecherin der BBC sah sich am Samstagabend gezwungen, den Zuschauern zu erklären, warum sie am Tag nach der schwersten Krise der britischen Nachkriegsgeschichte nur Hinterbänkler als Interviewpartner zu bieten hatte, sie tat das mit folgenden Worten: „Nachdem so viele Leute so viele Wochen lang so scharf darauf waren, mit uns zu sprechen, ist es plötzlich sehr still.” Ihre erste Frage an den konservativen Studiogast lautete: „Haben Sie George Osborne gesehen? Wissen Sie, wo er ist?”
Der Finanzminister und Camerons engster Vertrauter – der lange Zeit als dessen gesetzter Kronprinz galt – hat sich seit dem Referendum nur per Twitter bemerkbar gemacht. Seine längste Stellungnahme an die Briten am Samstag bestand darin, der Ministerin für Entwicklungshilfe zu ihrem Coming-out als Lesbe zu gratulieren. Cameron selbst besuchte mit grimmigem Gesicht eine folkloristische Militärparade, ohne ein einziges Wort von sich zu geben.
Und Boris Johnson? Der führende Kopf des Brexit-Lagers, auf den seit Freitagmorgen alle Augen gerichtet sind? Der Mann, der den Ausgang des Referendums gedreht hat, indem er sich auf die Seite des bis dahin praktisch chancenlosen Brexit-Lagers schlug? Der Mann, von dem nun erwartet wird, dass er sich der Verantwortung stellt und Camerons Nachfolge anstrebt?
Er kam familiären Pflichten nach. Am Tag zwei nach Britanniens historischer Zäsur hatte Johnson nichts Wichtigeres zu tun, als auf dem Anwesen von Earl Spencer, dem Bruder der verstorbenen Prinzessin Diana, Cricket zu spielen. Die Spencers gegen die Johnsons, unterhaltsames Spiel für einen guten Zweck, eine seit Jahren gepflegte Tradition der Familie.
Londons schauerliches Schweigen
Die Opposition tut währenddessen das Ihre, die Krise zu verschärfen. Statt das von der nach dem Referendum zerrissenen Tory-Partei geschaffene Machtvakuum zu füllen, statt Vorschläge und Pläne für die bevorstehenden Verhandlungen mit Brüssel zu machen, zerfleischt die Labour-Partei sich selbst. Sie liegt am Boden.
Ihr Parteivorsitzender Jeremy Corbyn war schon vor seinem halbherzigen Einsatz für den Verbleib in Europa umstritten. Sein Stellvertreter Hilary Benn entzog ihm am Wochenende das Vertrauen und wurde darauf geschasst. Bis Sonntagabend traten zehn Mitglieder des Schattenkabinetts zurück.
Nur die schottischen Nationalisten haben sofort die Initiative ergriffen und sind nicht der allgemeinen Schockstarre verfallen. Am Freitag erklärte Regierungschefin Nicola Sturgeon, sie strebe ein zweites Unabhängigkeitsreferendum an, um Schottland von Großbritannien zu spalten. Am Samstag rief sie ihr Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Sie informierte Brüssel darüber, dass ihre Regierung nicht aus der EU austreten will, und forderte von London, sie an allen Verhandlungen zu beteiligen. Vor dem Hintergrund von Sturgeons Entschlossenheit und Tatkraft wirkt das Schweigen der Hauptverantwortlichen in London noch schauerlicher.
Die Nachrichtenflaute wird von der Presse mit immer genaueren Berichten über die Wahlnacht kompensiert. Und mit jedem neuen Detail erhärtet sich der böse Verdacht, dass wirklich niemand – weder das In-Lager noch das Out-Lager – mit dem Ergebnis gerechnet hat. Und dass nun alle überfordert sind.
„Oh Gott. Armer Dave. Jesus”
Boris Johnson soll so überwältigt gewesen sein, als sich am Freitag gegen drei Uhr morgens abzeichnete, dass die Mehrheit der Briten für den Ausstritt stimmt, dass seine besorgten Berater ihn ins Bett schickten. Als er um 8.15 Uhr vor dem Fernseher mitverfolgte, wie sein Rivale Cameron zurücktrat, murmelte er entsetzt: „Oh Gott. Armer Dave. Jesus.”
Über Michael Gove, den anderen Chef der Brexit-Kampagne, wurde bekannt, dass er sich nach einem üppigen Essen mit gutem europäischem Rotwein am Donnerstag um 23 Uhr von seinen Gästen zurückzog. Er war überzeugt davon, zu verlieren, und hatte Sorge, der Abstand könne 15 Prozentpunkte betragen.
Und auch das, was über die Camerons zu erfahren ist, ist wenig erbaulich. Die „Times” berichtet, der Premier habe seinen Rücktritt gegenüber Vertrauten mit den Worten begründet: „Warum soll ich die ganze harte Scheiße erledigen, bevor jemand anderes übernimmt?” Seine Frau Samantha hat vor lauter Stress wieder angefangen zu rauchen.
Von wegen Schluss mit der Brüsseler Bevormundung
Die aufschlussreichsten Einschätzungen der Lage stammen derzeit nicht aus der Politik, sondern aus der Verwaltung. Dort versucht man, sich über das schier unermessliche Ausmaß der Aufgabe klar zu werden, aus der EU auszutreten. Sir Andrew Cahn, der ehemalige Leiter der Regierungsstelle UK Trade and Investment, hält den Austritt für die größte Herausforderung des britischen Beamtenstabs seit dem Zweiten Weltkrieg.
Der ehemals höchste britische Diplomat und Staatssekretär im Außenministerium, Sir Simon Fraser, warnt vor dem strukturellen Mangel an Manpower und Kompetenz in London. Weil seit Jahrzehnten sämtliche Handelsrichtlinien in Brüssel geschrieben werden, gibt es in Großbritannien nicht mehr genug Experten mit der notwendigen Erfahrung.
Auf höchstens 20 schätzt Fraser die Zahl derer, die derzeit in der Lage sind, die notwendigen Handelsabkommen nach dem Austritt zu erarbeiten. Benötigt würden mehrere Hundert, sagt er. Das Praktischste werde sein, sämtliche Brüsseler Richtlinien erst einmal eins zu eins in britisches Recht zu übernehmen, also einfach abzuschreiben.
„Take back control”, das Ende der Brüsseler Bevormundung, dürften sich die Wähler für den Austritt anders vorgestellt haben. Derzeit scheint in London niemand in der Lage zu sein, die Kontrolle zu übernehmen.
http://www.welt.de/politik/ausland/article156590684/Die-gruselige-Stille-in-London-verheisst-Unheilvolles.html