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Die Flüchtlingskrise mit Stacheldraht eingefangen

Auf den griechischen Ägäisinseln hat der Migrationsdruck nachgelassen. Doch schafft der Pakt mit der Türkei unhaltbare Zustände.

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Die Insassen des Internierungslagers Moria protestieren gegen die Abschiebung in die Türkei. (Bild: Rodrigo Avellaneda / Anadolu / Getty)

Der Ausnahmezustand in Mytilene ist beendet. Im putzigen Hafen der Inselhauptstadt von Lesbos, wo vor kurzem noch Hunderte von Flüchtlingen in langen Kolonnen für Fähren-Tickets nach Piräus anstanden oder vor ihren Zelten Feuer gegen die Kälte entfachten, nimmt das Leben wieder seinen gewohnten Lauf. Einheimische sitzen in Cafés, eine ausländische Wandergruppe marschiert gutgelaunt und zielstrebig der Hafenpromenade entlang.

Gleichwohl sind die Spuren der Flüchtlingskrise, die Lesbos wegen seiner Nähe zum türkischen Festland mit voller Wucht traf, allgegenwärtig. Flankiert von der «Protector», einem Patrouillenboot der britischen Küstenwache, ankern an der Hafenmole konfiszierte Schiffe. In die «Bl. Foca» oder die «Amiralin», zwei schäbige Fischerboote, pferchten Schleuser über 200 Flüchtlinge. Im unteren Deck zeugt ein Durcheinander oranger Schwimmwesten von der gefährlichen Überfahrt.

Riskantes Kalkül

Legten im vergangenen Herbst an Spitzentagen über 8000 Menschen auf der Ägäisinsel an, wagen seit dem Inkrafttreten des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei am 20. März deutlich weniger die Passage. Leutnant Eleni Kelmali von der Küstenwache warnt allerdings vor vorschnellen Schlüssen. Beginnt das Abkommen wirklich zu greifen, oder hat das schlechte Wetter die Zahlen nach unten gedrückt? Für ein Urteil sei es zu früh. Am Dienstagmorgen tauchten in den Gewässern über 400 Menschen auf – wie aus dem Nichts. Trotz der Überwachungsmission der Nato sowie Patrouillen von Griechen, Türken und der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

Geht das Kalkül auf, müsste das veränderte Regime Schutzsuchende von der Überfahrt abhalten, weil die Vereinbarung mit Ankara komplett neue Anreize setzt: Jenen, die nach Lesbos, Chios oder Kos übersetzen, droht die Rückschaffung in die Türkei. Von dort müssen sie sich für den legalen Migrationsweg in ein EU-Land hintenanstellen. So sollte auch das Geschäftsmodell der Schmuggler zerstört werden. Sollte. Noch sieht die Realität anders aus.

Weshalb sich weiterhin viele nach Griechenland durchschlagen, erfährt man am Stacheldrahtzaun des Internierungslagers Moria. Journalisten ist der Zugang zu dem sogenannten Hotspot nicht mehr erlaubt. Einige Insassen halten unbeirrt daran fest, dass es vielversprechender sei, in die EU zu reisen, als in der Türkei zu bleiben. Hussein, ein Syrer, der in Griechenland Asyl beantragen will, wusste nichts von den veränderten Rahmenbedingungen. Jetzt steckt er fest, wie alle, die seit dem Stichtag im März griechischen Boden erreichten, unter ihnen viele Kinder und Alte. Nach Aussagen von Helfern werden auch traumatisierte Überlebende eines Schiffsunglücks interniert – Menschen, die als besonders schutzbedürftig gelten. Niemand darf das Lager verlassen. Während die Internierten auf ihre Abschiebung warten, sitzen manche auf dem Kieselsteinboden, eine jüngere Frau steht in der grellen Mittagssonne und hat trotz Temperaturen von über 20 Grad die Kapuze ihrer Winterjacke über den Kopf gezogen.

Unverändert präsentiert sich das Bild an der Küste der Insel Lesbos. Freiwillige warten auf die Flüchtlingsboote, wickeln die unterkühlten Menschen in Decken ein und statten die Neuankömmlinge mit trockenen Kleidern aus. Neu ist hingegen, dass danach alle in das geschlossene Camp Moria abtransportiert werden. Wieso auf Lesbos alle interniert werden, obwohl die EU-Kommission deklarierte, Asylbewerber seien in offenen Einrichtungen unterzubringen, würde man gerne in Erfahrung bringen. Die Lagerleiterin lässt Anfragen ebenso unbeantwortet wie das Migrationsministerium in Athen.

Grosses Polizeiaufgebot

Das Eingesperrtsein nach einer aufreibenden Flucht, die Unsicherheit und die Angst, in die Türkei zurückgeschafft zu werden, schaffen Spannungen. «We want freedom!», skandiert eine Gruppe von etwa 20 Migranten auf dem Gelände. Ihnen gegenüber steht in gleicher Grössenordnung Bereitschaftspolizei mit Helmen und Schutzschilden. Vor dem Haupttor baut sich Verstärkung auf; blutjunge Beamte in blauen Overalls. Vier Militärs springen aus einem Jeep und observieren das Geschehen vom Zaun aus. Dieser Protest verläuft ohne Zwischenfälle. Gleichwohl pocht ein Soldat in barschem Ton auf die Einhaltung des Fotografierverbots, als der ausländische Journalist mit dem Handy filmen will. Nichts dagegen haben die Sicherheitskräfte, dass Händler Sandwiches und SIM-Karten gegen Euro-Noten durch den Zaun schieben.

Wegen der systematischen Internierung haben internationale Organisationen, allen voran das Uno-Flüchtlingshilfswerk, ihre Arbeit auf den Ägäisinseln eingeschränkt. Sie wollen nicht Teil eines Systems sein, das ihren humanitären Grundsätzen widerspricht. Médecins sans Frontières (MSF) zog sämtliches medizinisches Personal aus dem Camp Moria ab. Der MSF-Koordinator, Michele Telaro, begibt sich nur zu Informationszwecken in das Auffanglager. Nach seinen Beobachtungen hat Moria die Kapazität von 2000 Plätzen ausgeschöpft. Dennoch bringen Busse täglich weitere Migranten. Im Lager verblieben sind Organisationen, die medizinische Hilfe leisten, doch hat sich die Betreuung verschlechtert, zumal dem Staat die Mittel fehlen, um die Lücken zu füllen, die nach dem Rückzug der NGO entstanden sind.

Laut den Architekten des «Flüchtlingsdeals» soll Griechenland schon ab Montag entlastet werden. Dann sollen die Rückschaffungen beginnen. Doch scheinen zahlreiche logistische und rechtliche Fragen ungeklärt. Der stellvertretende Verteidigungsminister Dimitris Vitsas kündigte an, für die Rückführungen würden sechs Schiffe eingesetzt, welche Frontex chartere. Eine Sprecherin will das nicht explizit bestätigen. Die Prozedur werde «finalisiert».

Juristischer Hochseilakt

Wenig Transparenz gibt es über das juristische Prozedere. Im Beschluss der EU-Regierungschefs wurde versichert, dass jedem Asylsuchenden ein individuelles Verfahren gewährt werde. Zudem wird den Internierten das Recht auf einen Anwalt eingeräumt. Allerdings scheint es ein Ding der Unmöglichkeit, dieses Recht durchzusetzen. Seit drei Monaten streiken die griechischen Anwälte gegen höhere Sozialabgaben.

Der Deutsche Anwaltverein bemüht sich darum, in Kooperation mit Kollegen aus anderen europäischen Ländern unentgeltliche Beratung im Camp Moria anzubieten. Cord Brügmann, dem Geschäftsführer aus Berlin, schwebt eine Art juristisches Erste-Hilfe-Zelt vor. Werde den Internierten die Möglichkeit einer anwaltlichen Vertretung vorenthalten, sei es zweifelhaft, ob bei den angekündigten Blitzverfahren die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibe, betont Brügmann. Bei Familienferien im vergangenen Sommer sah der Anwalt, unter welch misslichen Verhältnissen die Flüchtlinge in Athen lebten. Ihm fiel auf, dass Freiwillige kochten und Unterstützung aller Art leisteten. Nur die Anwälte fehlten, sagt Brügmann, der einen Rucksack mit der Aufschrift «Vertrauen ist gut, Anwalt ist besser» trägt. Seit Tagen wartet er darauf, dass ihn die Behörden empfangen, damit er sein Projekt vorstellen kann.

Das Bedürfnis nach rechtlicher Beratung hat stark zugenommen, da seit der Schliessung der Balkanroute immer mehr Vertriebene in Griechenland Asyl beantragen. Allein im Camp Moria sollen seit dem 20. März über 1600 Personen erklärt haben, Asyl in Griechenland zu beantragen. Bis am Donnerstag gab es offenbar lediglich drei Beamte, die Anträge annehmen können. Ein Asylgesuch bewirkt freilich nicht automatisch einen Auslieferungsstopp, da die EU-Chefs die Türkei flugs zum sicheren Drittstaat kürten. Im griechischen Parlament manifestierte sich Widerstand gegen diese Aufwertung des Nachbarlandes, dem viele Griechen misstrauen.

Laut unbestätigten Berichten aus Brüssel, die sich auf nicht namentlich genannte Mitarbeiter der EU-Kommission beziehen, besteht die Absicht, am Montag 500 Personen in die Türkei abzuschieben. Dies bestätigte auch der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Es soll signalisiert werden, dass der Deal «funktioniert». Werden von Lesbos nicht bald Migranten abgeschoben, müssen zusätzliche Internierungslager gebaut oder offene Einrichtungen genutzt werden. Neben dem Internierungslager steht ein von Freiwilligen aufgestelltes und hervorragend eingerichtetes Camp mit dem sinnigen Namen «Better days for Moria» seit dem Inkrafttreten des EU-Abkommens leer.

«Neofaschistische Strömungen»

Lesbos wurde im vergangenen Sommer dermassen stark von der Flüchtlingswelle erfasst, dass der Bürgermeister von Mytilene, Spyros Galinos, den Notstand beantragte. Da sanitäre Anlagen fehlten, verrichteten Tausende ihre Notdurft im Freien. 10 000 Liter Exkremente sammelten sich so pro Tag, und auf dem Friedhof fehlte es nach einer Serie von Schiffsunglücken an freien Gräbern. Galinos verglich damals die Situation mit einer Zeitbombe, bei der die Zündschnur unablässig brennt. Blickt der Chef des 38 000-Einwohner-Städtchens in diesen Tagen aus dem Bürofenster, sieht er wieder eine heile Welt in Türkisblau. Das Abkommen hat die Flüchtlingskrise hinter Stacheldraht verbannt. Soeben flog er an eine Tourismusmesse nach Moskau. Die Botschaft: «Lesbos is back for business.»

Dennoch scheint es Galinos ob der wiedererlangten, aber bloss vordergründigen Normalität nicht ganz wohl zu sein. «Ich bin mit dem Abkommen nicht einverstanden», erklärt er nach einem langen Zug an seiner E-Zigarette. Das wirkliche Problem seien nicht die Flüchtlinge, sondern der Krieg in Syrien und das Wiedererstarken neofaschistischer Strömungen in Europa. Eine unerwartete Aussage für einen Politiker, der früher als Sekretär der rechtsnationalistischen Partei «Unabhängige Griechen» wirkte, des Junior-Koalitionspartners in der griechischen Regierung. Der Bürgermeister erhebt sich. Von seinem Büro kann Galinos das türkische Festland erkennen. Im Meer dazwischen halten drei Schiffe der Küstenwache Ausschau nach Migranten.

Forrás: http://www.nzz.ch

 

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