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Brasiliens Wirren um Rousseffs Absetzungsverfahren

Das politische Chaos in Brasilien nimmt kein Ende: Für einen Tag war das Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff annulliert. Doch nun wird der Senat das Prozedere plangemäss weiterführen.

Die Brasilianer lieben Telenovelas. Doch was derzeit in Brasilia vonstatten geht, übertrifft selbst das beste Drehbuch an Dramatik, unerwarteten Wendungen und zusehends auch an Tragikomik. Zum Wochenstart schien alles bereit für die Weiterführung des Absetzungsverfahrens gegen Dilma Rousseff im Senat. Die Abstimmung über die vorläufige Suspendierung der Präsidentin war auf Mittwoch angesetzt. Doch dann kam der grosse Auftritt von Waldir Maranhão.

Zurück ins Unterhaus?

Maranhão, der den wegen einer Korruptionsklage suspendierten Eduardo Cunha als Präsident des Unterhauses ersetzt, hatte am Montagmorgen beschlossen, die Abstimmung über die Eröffnung des Impeachments zu annullieren. Das Unterhaus hatte am 17. April mit 367 zu 137 Stimmen klar darüber befunden und das Impeachment eröffnet. Doch Maranhão wollte das Verfahren von neuem beginnen. Der Abgeordnete war mit seinem Entscheid auf einen Rekurs der Regierung eingetreten, die Verfahrensfehler geltend macht. Unter anderem soll Rousseff nicht genügend Raum zur Verteidigung eingeräumt worden sein. Die Fraktionen hätten zudem gegen die Regeln verstossen, indem sie vor der Abstimmung Weisungen an ihre Mitglieder ausgegeben hätten. Überdies sei auch die Weitergabe des Verfahrens an den Senat nicht nach den technischen Vorgaben erfolgt. Maranhão hatte sich vor seinem Entscheid zweimal mit dem Bundesanwalt und obersten Verteidiger der Regierung getroffen.

Doppelt überrascht

Alles war von Maranhãos Entscheid überrascht – selbst die Regierung, so schien es. Die Opposition sprach derweil von einem politischen Spielchen, da Maranhão als sehr loyal gegenüber dem Gouverneur seines Gliedstaates gilt, der wiederum ein enger Verbündeter Rousseffs ist. In Brasilia war den ganzen Tag der Teufel los. Politiker drohten mit Rekursen gegen die Annullierung und gegen die Weiterführung. Journalisten wussten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Und Juristen gaben ihre Analysen ab über die Fragen, ob Maranhão die Kompetenz für einen solchen Entscheid besitze, ob ein solcher zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch möglich sei oder ob vielleicht doch das Oberste Gericht darüber zu urteilen habe.

Das Beste kommt jedoch am Schluss jeder Telenovela-Folge. Und so war es auch am Montag in Brasilia. Kurz vor Mitternacht erreichte Senatspräsident Renan Calheiros eine offizielle Mitteilung von Maranhão, in dem dieser bekanntgab, seinen Entscheid vom Vormittag wieder zurückzuziehen. Was ihn dazu bewegt hatte, wissen vermutlich nur wenige. Da zu diesem Zeitpunkt noch nichts amtlich publiziert worden war, hatte es sich im Endeffekt um nicht mehr als eine grosse Posse gehandelt. Die Versuche von Vertretern der Regierung, Maranhão noch von seinem Rückzug abzubringen, waren gescheitert.

Abstimmung im Senat

Ob die Annullierung der Abstimmung des Unterhauses durch den Interimspräsidenten der Kammer gültig gewesen wäre, war ohnehin fraglich. Zudem hatte das Oberste Gericht zu einem früheren Zeitpunkt bereits einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen die Impeachment-Abstimmung im Unterhaus abgewiesen, der sich auf dieselbe Argumentation gestützt hatte.

Senatspräsident Renan Calheiros war am Montag zu keiner Sekunde auf den Entscheid Maranhãos eingegangen. Stattdessen kündigte er an, das Prozedere des Absetzungsverfahrens gegen Rousseff im Senat plangemäss und zügig weiterzuführen. Die Kleine Kammer soll demnach bereits am Mittwoch über die Fortsetzung des Impeachments entscheiden. Ein einfaches Mehr genügt, um Rousseff für bis zu 180 Tage von ihrem Amt zu suspendieren. Bis dann muss der Senat einen definitiven Entscheid über Rousseffs Amtsenthebung fällen, was einer Zweidrittelmehrheit bedarf. Die Regierungsgeschäfte fallen in der Zwischenzeit dem abtrünnigen Vizepräsidenten Michel Temer zu. Dieser hat bereits eine neue Regierung zusammengestellt, die einen politischen Kurswechsel verspricht. Temer würde die Amtszeit im Falle einer Absetzung Rousseffs bis zur nächsten Wahl 2018 zu Ende führen – vorausgesetzt er gerät nicht in den Sog der Petrobras-Ermittlungen, die auch seine Partei im Fokus haben.

Rückhalt verloren

Das Absetzungsverfahren gegen Rousseff ist höchst umstritten. Zwar ist Rousseffs Partido dos Trabalhadores (PT) tief in den Skandal um Petrobras verwickelt. Doch Rousseff wird nicht etwa Korruption oder ein sonstiges schweres Vergehen vorgeworfen, sondern administrative Unredlichkeit. Ihre Regierung hatte in den vergangenen zwei Jahren die Staatsrechnung geschönt, indem sie Mittel aus Staatsbanken zweckentfremdet hatte. Die Wirtschaftskrise und der Korruptionsskandal um Petrobras haben die Regierung jedoch derart geschwächt und handlungsunfähig gemacht, dass selbst dieser gesuchte Grund für ein Absetzungsverfahren mehrheitsfähig ist – nicht nur im Parlament, sondern auch in der Bevölkerung.

Unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung haben sich in den vergangenen Wochen praktisch alle Koalitionspartner von Rousseff abgewandt. Entscheidend war der Ausstieg des Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) von Vizepräsident Temer. Der PMDB ist die stärkste Kraft in beiden Kammern und war seit der Regierung von Lula da Silva ab 2002 der wichtigste Koalitionspartner des PT.

http://www.nzz.ch/international/amerika/annullierung-fuer-einen-tag-brasiliens-wirren-um-rousseffs-absetzungsverfahren-ld.63318

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