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Als der Krieg nach Kilis kam

In Kilis leben mehr Syrer als Türken. Lange Zeit galt die Stadt als Symbol für die Hilfsbereitschaft der Türken. Doch damit ist es vorbei.

Verängstigt: eine Mutter und ihre Kinder nach einem Raketeneinschlag in Kilis. (Bilder: Umit Bektas / Reuters)
Verängstigt: eine Mutter und ihre Kinder nach einem Raketeneinschlag in Kilis. (Bilder: Umit Bektas / Reuters)

 

Mehr als 450 Jahre hat die Tekke-Moschee sämtliche Konflikte in der türkisch-syrischen Grenzregion um Kilis weitgehend unversehrt überstanden. Bis am Sonntag. Der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan weilte gerade in der Stadt, als eine Katjuscha-Rakete das Gotteshaus traf. Eine weitere Rakete traf ein Wohnhaus am Stadtrand. Eine Türkin und ein Syrer wurden durch die Angriffe getötet, 26 weitere Personen verletzt. Mit seinem Besuch wollte Akdogan der lokalen Bevölkerung versichern, dass die Regierung die Lage im Griff hat. Seit Anfang des Jahres ist Kilis mehrfach von Raketen aus dem Nachbarland getroffen worden. Doch seit syrische Rebellen Anfang April einen Angriff auf die Extremisten des Islamischen Staats (IS) in dem rund 90 Kilometer langen syrischen Grenzstreifen südöstlich von Kilis begonnen haben, schlagen fast täglich Katjuschas in der Stadt ein.

Wut auf die Flüchtlinge

Nach offiziellen Angaben gehen die Angriffe auf das Konto des IS, der sich damit für die türkische Unterstützung der Rebellen rächt. Mehmet Taha überzeugt weder dies noch die Beruhigungen der Regierung. «Es gibt hier keine Sicherheit mehr», sagt Taha. «Wir können unsere Kinder nicht mehr zur Schule schicken, und die Geschäfte laufen auch nicht mehr.» Gemeinsam mit zwei Bekannten ist er in die Tekke-Moschee gekommen, um sich die Schäden an dem Gotteshaus anzusehen. Durch die Explosion sind die Fenster geborsten, der Teppichboden ist mit Glassplittern übersät. Auf dem kleinen Friedhof hinter der Moschee, wo das Geschoss einschlug, sind zahlreiche Gräber schwer beschädigt. Einen Baum hat es in der Mitte des Stammes zerrissen, die Krone liegt auf dem Dach des Grabmals von Canbolat Pasa, dem Stifter der Moschee aus dem 16. Jahrhundert. Als drei Syrerinnen kommen, zischt einer der Türken: «Haut ab. Wir wollen hier keine Araber.» Taha und seine Begleiter sind wütend: wütend auf die Regierung und wütend auf die Flüchtlinge.

Nach offiziellen Angaben hat die Provinz Kilis mit rund 100 000 Einwohnern fast 130 000 Syrer aufgenommen. In jeder europäischen Stadt gäbe es bei einem so hohen Flüchtlingsanteil massive Konflikte. Doch hier klappte das Zusammenleben fast problemlos – zumindest bisher. Ein Abgeordneter der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die auch die lokale Regierung stellt, hat deshalbKilis für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Nicht nur die Geschäfte von Syrern, auch Wegweiser der Stadtverwaltung sind auf Arabisch beschriftet. Aber mit der Harmonie ist es vorbei. «Die Syrer müssen gehen», sagt Taha zum Nicken seiner Begleiter. Und damit sind sie nicht allein.

Kein Rezept gegen Katjuschas

Am Sonntag zogen Demonstranten vor den Sitz des Gouverneurs nahe der Tekke-Moschee und forderten seinen Rücktritt. Die Polizei löste den Protest gewaltsam auf. Doch später zog ein Mob durch die Stadt und griff Flüchtlinge an. Randalierer haben in der letzten Wochen mindestens fünf syrische Geschäfte und etliche Autos schwer beschädigt. Dabei sind die Syrer genauso Opfer wie die Türken. Von den bisher achtzehn Todesopfern waren sieben Syrer, auch unter den Dutzenden von Verletzten sind viele Syrer. «Wir leben in Angst», sagt Mehmet Nahaz. «Und daran sind bloss die Syrer schuld. Sie müssen wieder weg.» Wie jeden Tag stand der 55-Jährige in seiner Metzgerei in einer kleinen Seitenstrasse im Zentrum, als vor einer Woche im Haus nebenan eine Katjuscha einschlug und drei syrische Halbwaisen tötete, die auf dem Dach spielten; ein weiteres Kind erlag später seinen Verletzungen. «Die armen Kinder», sagt Nahaz. Trotzdem: «Das ist nicht unser Krieg. Die Syrer müssen wieder gehen.»

Hunderte von Türken sind vor dem ständigen Beschuss aus Kilis geflohen, etliche Ladeninhaber haben ihre Geschäfte dichtgemacht. Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Aber wo sollen die Syrer hin? «Chaotisch» nennt Naif Sami Hamdan die Lage. Vor bald vier Jahren floh er aus dem syrischen Azaz nach Kilis, seit drei Jahren arbeitet er in einer Eisdiele um die Ecke bei der Tekke-Moschee. Trotz den Übergriffen fühle er sich aber weiterhin sicher. Dafür sorgt auch die erhöhte Polizeipräsenz. Auf Militärlastwagen fahren Einheiten der Gendarmerie vorbei, Polizisten patrouillieren in den Strassen im Zentrum. «Die Regierung macht einen exzellenten Job», sagt Hamdan.

Um den Katjuscha-Beschuss zu unterbinden, hat die Armee weitere Truppen, Artillerie und Aufklärungsdrohnen an die Grenze verlegt. Die Amerikaner planen den Einsatz eines speziellen Raketensystems (Himars). Gegen die leicht zu tarnenden und mobilen Katjuschas hilft das aus Sicht von Experten aber wenig. Gleichzeitig nehmen der Krieg um Aleppo und die Kämpfe gegen den IS an Heftigkeit zu. Auch um den Unmut der Bevölkerung einzudämmen, hat die Türkei die Grenze für Flüchtlinge geschlossen. Die Frage ist freilich, wie lange Ankara daran festhalten kann. Schon jetzt leben zirka 250 000 Vertriebene in den Camps bei Azaz. «Es gibt kaum Trinkwasser, überall ist Müll», sagt Ali al-Sheikh, ein syrischer Freiwilliger. «Schon jetzt kämpfen wir mit einer Misere.»

Feuerpause ohne Rücksicht auf Aleppo

bol. Beirut ⋅ Laut einer offiziellen Stellungnahme Washingtonshaben die Vereinigten Staaten und Russland einen neuen Anlauf unternommen, um eine Feuerpause in Syrien erneut durchzusetzen. Dasselbe hatte zuvor die syrische Armee erklärt. In der Gegend von Latakia sowie im östlichen Ghouta bei Damaskus sollten die Kämpfe in der Nacht auf heute Samstag eingestellt werden. Washington sprach von einer Bekräftigung der bisherigen landesweiten Feuerpause, die vielerorts kollabiert ist, und betonte, es handle sich nicht um eine neue Serie lokaler Waffenruhen.

Allerdings konnte man sich mit Moskau nicht über Aleppo einigen, wo derzeit die schlimmsten Kämpfe toben. Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Raad al-Hussein, sagte, die zivilen Toten und die Bombardierung von Märkten und medizinischen Einrichtungen zeugten von einer monströsen Geringschätzung von menschlichem Leben. Ein gezielter Luftangriff des Regimes oder seiner Helfer hatte am Mittwoch ein Spital im Rebellengebiet von Aleppo zerstört und Dutzende Tote gefordert. Auch am Freitag starben in der Metropole auf beiden Seiten zahlreiche Menschen. Hussein meinte warnend, es gebe alarmierende Hinweise auf Vorbereitungen für eine tödliche Eskalation. Das Regime und seine Verbündeten erwägen offenbar eine Rückeroberung von Aleppo.

Die Stellungnahme Washingtons zur Feuerpause besagte nur, man wolle Russland zu Schritten bewegen, welche auch in Aleppo die Gewalt reduzierten. Wenn Aleppo von der Feuerpause ausgeschlossen wird, dürfte sich diese in lokale Waffenruhen verwandeln. Das Regime hätte dann für jene Schlachten, die es als prioritär erachtet, den Rücken frei. Eine politische Lösung für Syrien hätte kaum Chancen – wenn sie diese je hatte. Das immense Leid der Zivilisten in Aleppo in den letzten Tagen wäre ein Vorgeschmack auf die Tragödie, welche ein Rückeroberungsversuch der Rebellengebiete Aleppos durch das Regime und seine Verbündeten unweigerlich mit sich ziehen wird.

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/kampf-gegen-den-is-als-der-krieg-nach-kilis-kam-ld.17149

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