Eine gespenstische Ahnung ging um in Europa in den letzten Tagen, vor dem ersten Durchgang der französischen Präsidentenwahl: die Furcht, die Kandidatin des Front National werde womöglich deutlich besser abschneiden, als in Umfragen vorausgesagt wurde. Würde es Marine Le Pen gelingen, über ihre bisherige Klientel hinaus, derer sie sich gewiss sein konnte, weit ins Bürgertum vorzudringen?

Gärt etwas im Untergrund der europäischen Gesellschaften, das den Blicken der Gesellschaftserforschung entgangen ist? Wird das Mutterland des kontinentaleuropäischen Republikanismus stramm nach rechtsaußen wandern? Dazu ist es nicht gekommen. Marine Le Pen hat zwar beträchtlich mehr Stimmen bekommen als bei der Wahl 2012. Sie wird aber nicht Präsidentin der Republik. Emmanuel Macron wird das Rennen machen.

Das ist für Frankreich eine Sensation. Erstmals in der Geschichte der V. Republik kommt kein Kandidat der beiden bisher bestimmenden Parteien, der Sozialisten und der Konservativen (früher UMP, heute Republikaner), in die entscheidende zweite Runde.

Das alte Parteiensystem ist abgewählt

Man kann darin einen unglücklichen Zufall sehen: Hier die traurige Amtsführung des scheidenden sozialistischen Präsidenten François Hollande, dort eine peinliche Affäre familiärer Patronage, die François Fillons Image des korrekten Saubermanns zerschmettert hat. Aber es waren keine Zufälle, es hatte System. An diesem Sonntag ist in Wahrheit das alte französische Parteiensystem abgewählt worden. Etwas Neues beginnt. Man kann nur hoffen, dass diese Chance genutzt wird.

Emmanuel Macron verlässt mit seinen engsten Beratern ein Restaurant nach dem Ende der Wahlnacht
Emmanuel Macron verlässt mit seinen engsten Beratern ein Restaurant nach dem Ende der Wahlnacht

Quelle: AP

Das Ergebnis der ersten Wahlrunde schafft eine Atempause, eine glückliche Atempause. Mehr aber nicht. Es zeugt von einer überraschenden Vitalität der französischen Demokratie, dass in Gestalt von Emmanuel Macron ein Mann die Poleposition erobert hat, der keine Partei und keinen nennenswerten Apparat hinter sich hat und von dem vor einem Jahr niemand geglaubt hätte, dass er auch nur die geringste Chance haben würde, Präsident der Republik zu werden.

Angesichts der versäulten, versteinerten politischen Landschaft Frankreichs kommt das einem Wunder gleich. Viele trauen sich, einem Mann, der sich politisch bis heute nicht wirklich erklärt hat, carte blanche zu geben. Wenn das kein Aufbruch ist.

Wähler rechnen mit dem „System“ ab

Das zeigt aber umgekehrt auch, wie verzweifelt sich die politische Lage in Frankreich darstellt. Die mehrheitsfähige Devise war offensichtlich: Alles, nur nicht die Alten! Mehr als 40 Prozent derer, die ihre Stimme abgaben, haben für Kandidaten votiert, die eine rechtsradikale oder linksradikale Abrechnung mit dem „System“ wollen: für Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon.

Und Macron konnte den ersten Platz auch nicht deswegen erobern, weil er ein überzeugendes Rezept gegen die französische Misere präsentiert hätte, sondern weil es ihm – dem Musterschüler des alten Elitenregiments – gelang, sich als Außenseiter, als Revolutionär, als Hoffnungsträger, als ein Mann von unten in Szene zu setzen. Zwei Drittel der Franzosen haben der bisherigen politischen Klasse Frankreichs – und hier handelt es sich wirklich um eine Klasse – das Vertrauen entzogen.

Fillon gesteht seine Niederlage ein

Der konservative Kandidat Francois Fillon hat bei der Wahl in Frankreich seine Niederlage eingeräumt. Gleichzeitig stellte er sich hinter Macron, der gegen Le Pen in die Stichwahl muss.

Quelle: N24

Macron hat mit einer Methode reüssiert, die auch Obama zum Erfolg führte. Mit der Begeisterung, die er entfachen konnte, mit dem Wind des Wandels, den er zu erzeugen vermochte. Vom Beispiel Obama könnte er lernen, dass es klug wäre, von Anfang an die mögliche Fallhöhe zwischen Wort und Tat im Auge zu haben.

Wirklich etwas Neues beginnen und nicht in den alten Schlendrian zu verfallen. Es wird für Frankreich sehr viel davon abhängen, ob es Macron gelingt, auch personell eine Politik auf den Weg zu bringen, die sich nicht nur proklamatorisch öffnet und die geschlossenen Kanäle der bisherigen Nomenklatura verlässt. Denn er muss, will er politisch überleben, binnen 14 Tagen und danach fünf Jahre lang versuchen, auch jene zu überzeugen und vom Nein wegzuholen, die jetzt rechts- und linksradikal gewählt haben.

Bedürfnis nach kraftvoller Führung

Konstruktion und Geschichte der Französischen Republik werden ihm das nicht leicht machen. Denn Frankreich ist eine eigenartige Demokratie: Sie ist so etwas wie eine republikanische Wahlmonarchie. Das hat einiges mit Charles de Gaulle, dem Gründer der V. Republik, zu tun, der die Rolle des Präsidenten als zugleich strenger und gütiger Vater der Nation modellierte.

Und der damit dem Präsidenten eine übergroße, man könnte auch sagen: übermenschliche Statur gab. Doch das Problem reicht viel weiter zurück, bis zur Französischen Revolution. Wenn in Frankreich das Wort République erklingt, ist stets sofort dieser gewaltige Umbruch präsent, der die französische Nation einst konstituierte.

Die Nation, die da vor den Augen der Welt entstand, sollte keine Nation unter anderen, sondern die Nation der Nationen sein. Ihr anzugehören war eine Auszeichnung, jeder Bürger konnte sich herausgehoben fühlen. Aber auch so bleiben, wie er

war.

Quelle: dpa infocom

Nationaler Stolz und provinzielle Selbstgenügsamkeit gingen seither in Frankreich Hand in Hand. Dazu passt das Bedürfnis nach kraftvoller Führung. Es war kein Zufall, dass auf den Aufbruch der Revolution die straffe Hand Napoleons folgte. Bis heute soll der Präsident der Republik qua Person und Amt die Kraft haben, die Dinge zu richten.

Hollande an Überhöhung des Amtes gescheitert

An dieser Überhöhung des Amtes sind der bisherige Staatspräsident Frankreichs und sein Vorgänger gescheitert. Hollande war schwach und linkisch, Sarkozy war unbeständig und ein Großmaul. Das mag man ihnen vorwerfen.

Im Rückblick ist aber auch zu erkennen, dass deren Vorgänger Jacques Chirac und auch François Mitterrand eher Verwalter als Gestalter des Präsidentenmythos waren. Ein französischer Präsident soll der höchste Repräsentant eines demokratischen Gemeinwesens sein und zugleich der König der Republik.

Das überfordert jeden Amtsinhaber. Die Verbindung, die in Frankreich Demokratie und Alleinherrschaft eingegangen sind, passt nicht in unsere Zeit. Dass das „tiefe Frankreich“ („la France profonde“) so veränderungsunwillig ist, hat auch mit der liebevoll gepflegten Illusion zu tun, ein guter Präsident könne seine Bürger von den Stürmen der Welt abschirmen.

Macron muss das Präsidentenamt neu erfinden

Ein Präsident Macron wird dieses Amt neu erfinden müssen. Bei seinem ersten Auftritt am Wahlabend sah man ihm förmlich an, wie ihn diese Verantwortung, die nun wohl auf ihn zukommt, auch erbleichen lässt. Das spricht für ihn.

Im Wahlkampf hat er sich als Rebell gegeben. Er verlöre, wenn er nach seiner Wahl zum Präsidenten wie alle seine Vorgänger in die Rolle des Übervaters der Nation schlüpfte. Er müsste gewissermaßen die Redimensionierung des Präsidentenamtes betreiben.

Zugleich aber auch eine transparente Politik einleiten, eine Politik des „Wir haben verstanden“. Dass 89 Prozent der Franzosen mit dem politischen System des Landes unzufrieden sind, muss er in einen Auftrag ummünzen. Um diese Titanenaufgabe, die er sich zutraut, ist er nicht zu beneiden.

Er weiß vermutlich aber: Wenn ihm das nicht gelingt und er als ein weiterer in der Reihe der Präsidenten endet, die Großes versprochen, aber nur Kleines getan haben – dann hätte auch er dazu beigetragen, das herkömmliche politische System weiter zu diskreditieren. Und damit den Front National noch stärker zu machen, als er heute schon ist. Marine Le Pen zu verhindern ist wichtig. Es ist aber kein Wert an sich.

https://www.welt.de/debatte/article163939014/Dieses-Ergebnis-ist-fuer-Frankreich-eine-Sensation.html