Deutschland ist auf dem Weg zu österreichischen Verhältnissen. Die große Koalition droht wie Mehltau auf allen anderen parteipolitischen Konstellationen zu liegen. Es kann nur eine Lösung geben.

Einem Kalauer zufolge ist weniger manchmal mehr. In diesem Sinne hatte der bewusste Minimalist Karl Popper recht, als er sagte, der größte Vorteil der Demokratie bestehe darin, dass man in ihr die Regierung abwählen könne. Dass die Bevölkerung sich ihrer ohne Bürgerkrieg entledigen kann.

Damit das funktioniert, bedarf es politischer Kräfte, vulgo: Parteien, die eine bunte Wettbewerbssituation garantieren. Die also deutlich voneinander unterschieden sind, in ihren Vorhaben wie in ihrem Personal.

Der Wähler soll die Chance haben, wirklich (aus)wählen zu können: zwischen verschiedenen, markant voneinander abgehobenen Angeboten.

Paradebeispiel Österreich

Darum ist es heute schlecht bestellt, in Deutschland wie anderswo. Den Paradefall einer formell zwar gegebenen, tatsächlich aber verschwundenen politischen Bipolarität stellt Österreich dar.

Obwohl es eine eher linke Partei, die SPÖ, und eine eher konservative Partei, die ÖVP, gibt, wurde das Land bisher 42 der 71 Nachkriegsjahre von einer großen, inzwischen aber gar nicht mehr so großen Koalition beider Parteien regiert.

Wer eine von ihnen wählte, konnte ziemlich sicher sein, dass er die andere mitwählt. Andere Regierungskonstellationen waren kaum möglich, da die große Koalition auch hier auf Dauer einen seltsamen Effekt hatte: Sie schwächte nicht nur die beiden sie bildenden Parteien, sondern verhinderte in einer paradoxen Fernwirkung, dass andere Parteien (Grüne, Liberale) merklich an politischem Gewicht zunahmen.

Mit Ausnahme einer Partei, der rechtspopulistischen FPÖ. Zwar ist eine große Koalition bei einer Mehrheit der Bürger durchaus beliebt, weil sie mittig ist und ein regierungsamtliches Nein zum politischen Streit verkörpert.

Zugleich nährt sie aber auch, oft bei den gleichen Bürgern, das ungute Gefühl, sie würden von „Systemparteien” regiert, zu denen dann auch noch die kleinen Oppositionsparteien gerechnet werden. Nur die Partei des irrealen Nein profitiert von diesem Unmut.

Italien hat das gleiche Problem

Andere Länder, andere Konstellationen – und doch das gleiche Problem. Italien verfügt mit dem Partito Democratico (PD) über eine auch in Wahlen ungewöhnlich starke Partei. Es fehlt aber an alternativen Bündniskonstellationen, spätestens seit Berlusconi das Lager rechts von der Mitte nachhaltig in ein Trümmerfeld verwandelt hat.

Liberale Alternativen gibt es in dem Land zudem seit einem knappen Jahrhundert nicht mehr. Es mag durchaus sein, dass nach der Parlamentswahl 2018 Matteo Renzis PD nicht allein regieren kann. Es würden dann schnell ein, zwei kleinere Partner gefunden, die die nötige Mehrheit garantieren.

Eine kraftvolle Konstellation, an der der PD nicht beteiligt wäre, ist aber derzeit nicht denkbar. Es sei denn, man bringt auch hier die 5-Sterne-Bewegung Beppe Grillos oder gar die finstere Lega Nord ins Spiel.

Während Österreich politisch von einer klebrigen Mitte bedeckt ist, ist das politische System Italiens ein hinkendes: Es fehlen seriöse Gegenparts zur Linken.

In Österreich und Italien, aber auch in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland waren es die mehr oder minder radikalen Populisten, die mit ihrem Aufstieg diesen Missstand erkennbar gemacht haben.

Denn je stärker Parteien wie die FPÖ oder die AfD werden, desto mehr fallen bei den übrigen Parteien im politischen Paarungsverhalten die Hemmungen. Es geht, was geht. Hauptsache, es stimmt rechnerisch: 50 + 1.

Zwei negative Folgen

Das bisher krasseste deutsche Beispiel war in diesem Frühjahr die Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt. Nur mit Ach und Krach war es möglich, unter Ausschluss der AfD (und der Linken) eine Mehrheit zu bilden.

Politiker sagen nach Wahlen gerne, man werde die Koalition bilden, die der Wählerwille gewissermaßen vorschreibe. Es ist leider, von den Rechtspopulisten so nachhaltig wie nie zuvor an den Tag gebracht, immer klarer zu erkennen, dass das nicht stimmt.

Es ist gefährlich für das Funktionieren der Demokratie, dass nun plötzlich jedwede Koalition tragbar wird, solange die Neinparteien nicht daran beteiligt sind.

Das hat zwei negative Folgen, die beide dem Neinlager leicht neue Stimmen zuführen können. Erstens sind diese Regierungskoalitionen in erster Linie negativ bestimmt, nämlich in Abgrenzung zu den Neinparteien. Und zweitens macht es die Politikerrede von den Inhalten, um die es ihnen zuvörderst gehe, vollends zur Phrase, ja zur Lüge.

Nimbus der unausweichlichen Regierungspartei

Was tun? Im Prinzip liegt es auf der Hand. Die politischen Angebote müssen wieder Kontur bekommen und unterscheidbar werden. Und zwar so vielfältig, dass nicht nur eine Koalition bildbar ist.

Auf Deutschland angewandt hieße das: Der auf Bundesebene scheinbar fest etablierte Mechanismus muss außer Kraft gesetzt werden, nach dem die Union mit dem jeweils möglichen Partner koaliert, um ihn am Ende faktisch entkernt zurückzulassen. Ein Schicksal übrigens, das auch den Grünen droht, ließen sie sich – wie längst geplant – auf Schwarz-Grün in Berlin ein.

Die Verluste, die die CDU seit dem Aufkommen der großen Flüchtlingsfrageerleidet, sind für die Partei schmerzlich, für die Demokratie aber von Vorteil. Denn so verliert die Union den Nimbus der unausweichlichen Regierungspartei.

Das lockert den Boden für andere Konstellationen, für Alternativen eben. Politisch kann man sich eine rot-rot-grüne Koalition nicht wünschen. Denn ihr oberstes Gesetz wäre vermutlich etwas Gestriges: ein scharfer Etatismus.

Im Interesse demokratischer Hygiene wäre sie aber vielleicht wünschenswert, weil mit ihr die Zeit der wie gottgegebenen Unionsherrschaft beendet wäre.

In Deutschland fehlt ein liberales Gegengewicht

Die CDU bekäme nebenbei die Chance, sich in der Opposition zu erneuern und jene politische Ortsbestimmung vorzunehmen, die sie seit 2005 Wahl für Wahl vertagt hat.

Dass Rot-Rot-Grün als Gegengift zur Dauerregentschaft der Union überhaupt in Betracht kommen kann, liegt natürlich an einem schmerzhaften Mangel. Es fehlt in Deutschland (noch immer) eine starke liberale Kraft.

Damit ist etwas anderes gemeint als die Anhängsel-FDP, die die Geschichte der Bundesrepublik begleitet hat. Gerade die Zeiten scheinbar alternativloser Staatsbezogenheit rufen geradezu nach einem liberalen Gegengewicht.

Nach einer politischen Kraft, die jene vielen anzieht, die an den Herausforderungen der Globalisierung (der Flüchtlingsfrage, mithin die Frage globaler Verantwortung eingeschlossen!) nicht verzweifeln.

Die es mit der Zukunft aufnehmen wollen. Und die – anders als Deutschlands herkömmliche Liberale – die soziale Frage nicht angewidert links liegen lassen, sondern neu aufwerfen.

Es geht um ein Zukunftsversprechen, das nicht mehr der alten Regel folgt, dass Verteilung Befriedung garantiere.

Kurz, es braucht Alternativen für Deutschland.

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article158000386/Dringend-gesucht-Alternativen-fuer-Deutschland.html