Wer morgens ausreichend isst, wird fitter, schlauer und schlanker. Mit dieser Weisheit macht die Ernährungsindustrie Milliardenumsätze. Forscher haben allerdings herausgefunden: Sie stimmt nicht.

Ein sonniger Tag beginnt. Auf einer Wildwiese vor Hügellandschaften haben ein paar gut gelaunte Erwachsene und Kinder Klapptische aufgebaut, ausgelassen beginnen sie ihr gemeinsames Frühstück. „Das Gute des Morgens”, sagt ein Sprecher aus dem Off. So geht der Werbespot, mit dem der Cerealien-Hersteller Kellogg’s (auch Kellogg Company) derzeit seine Frühstücksflocken bewirbt.

In der gesamten Branche herrscht derzeit ähnlich gute Laune wie in den Werbefilmen, die sie produzieren lässt. Denn das Geschäft mit Getreideflocken, Marmelade, Honig, Müsli und was sonst noch so alles auf den Frühstückstischen steht, läuft bestens. Allein in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres haben die Hersteller nach Daten des Marktforschungsunternehmens Nielsen 2,04 Milliarden Euro umgesetzt. Das sind etwa 100 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Und die Industrie tut alles dafür, dass besorgte Eltern, gestresste Singles und gesundheitsbewusste alte Menschen dem Versprechen der Unternehmen glauben: Nur mit einem vernünftigen Frühstück hält der Körper gut bis zum Abend durch.

Zum Fetisch der Leistungsgesellschaft hochgejubelt

Sie konnte sich bisher darauf verlassen, dass ihre Werbung bloß eine tief verwurzelte Überzeugung bestätigte: Frühstück muss sein. Das ist der Grund, warum sich in Millionen deutschen Haushalten morgens Dramen abspielen. Mütter, die ihren noch verschlafenen Kindern Obstschälchen unter die Nase halten oder ihnen Honigbrote aufnötigen. Pendler, die mit leerem Magen und schlechtem Gewissen aus dem Haus hasten. War da nicht was mit gebremster Leistungsfähigkeit? Das Frühstück – es ist zu einem Fetisch der Leistungsgesellschaft hochgejubelt worden.

Nun allerdings erweist sich die These von der Unverzichtbarkeit des Frühstücks als Märchen. Eine Reihe deutscher und amerikanischer Ernährungswissenschaftler hat die großen Glaubenssätze der Frühstücksindustrie überprüft, unabhängig voneinander. Die Forscher kommen zu einem für die Hersteller fatalen Urteil: Das wissenschaftliche Fundament, auf dem die schönen Werbeversprechen beruhen, taugt in vielen Fällen nichts.

Der Würzburger Ernährungswissenschaftler und Sportphysiologe Christoph Raschka etwa ist sehr skeptisch. „Von den natürlichen Instinkten her haben die meisten Menschen morgens keinen Hunger”, sagt er. Das hänge mit der genetischen Programmierung des Menschen zusammen: Die Steinzeitmenschen hätten mangels Kühlschrank zwangsläufig erst einmal auf die Jagd oder zum Fischen gehen müssen, ehe es etwas zu essen gab. „Auch unsere Blutzuckerwerte sind morgens hoch”, sagt Raschka. „Die Reserven reichen mindestens bis zum Mittag.” Aus seiner Sicht spricht nichts dagegen, das Frühstück einfach auszulassen.

Das moderne deutsche Frühstück ist eine Erfindung des Industriezeitalters. ImMittelalter haben die Menschen in Deutschland sich morgens mit Suppe und trockenem Brot begnügt. „In der Zeit der industriellen Revolution mussten die Fabrikarbeiter morgens erst einmal ihren Kohlenhydratstoffwechsel in Gang bringen”, sagt Forscher Raschka. Das gelte heute höchstens noch für Handwerker oder Spitzensportler.

Nährstofflücke oder Frühstückslüge?

Angeblich beweisen unzählige Studien der vergangenen Jahre, dass das Frühstück die unverzichtbarste Mahlzeit ist. Wer frühstückt, sei fitter, schlauer und habe bessere Chancen, schlank zu bleiben, heißt es. Wer das Frühstück auslasse, gehe ein erhöhtes gesundheitliches Risiko ein, warnt etwa die Kieler Ökotrophologin Maria-E. Herrmann. Die Nährstofflücke sei mit anderen Mahlzeiten im Lauf des Tages kaum aufzuholen.

Der Nestlé-Konzern verweist auf eine Untersuchung des australischen Privatdozenten Peter Williams. Danach würden ballaststoffreiche Cerealien die Darmtätigkeit um 25 Prozent anregen und außerdem das Risiko senken, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme zu bekommen. Freilich ist offen, wie unbeeinflusst das Ergebnis ist. Autor Williams war bis 2013 Mitglied eines wissenschaftlichen Beraternetzwerks für Nestlé in Australien. Eine Serie von amerikanischen Studien wiederum befasst sich mit angeblichen Zusammenhängen zwischen Fettleibigkeit und dem Auslassen des Frühstücks.

Wie sich herausstellt, sind derartige Behauptungen schon sehr gewagt. Viele Analysen halten einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Gesundheitsforscher der amerikanischen Adipositas-Gesellschaft und des US-Ernährungsministeriums haben sich etliche dieser Untersuchungen vorgenommen.

Ihre Ergebnisse, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „American Journal of Clinical Nutrition”, können den Herstellern nicht gefallen. So seien Zusammenhänge ohne wissenschaftliche Belege konstruiert worden. Zitate würden irreführend verwendet, und die Auslegung der eigenen Ergebnisse zeuge oft von vorgefassten Meinungen. „Der Glaube an einen Zusammenhang zwischen Frühstück und Fettleibigkeit ist stärker als die wissenschaftlichen Nachweise”, lautet die lapidare Schlussfolgerung der Wissenschaftler.

Viele Studien sind von wirtschaftlichen Interessen geprägt

Eine mögliche Erklärung für den Frühstücksfundamentalismus, auch unter Forschern, ergibt sich, wenn man sich genauer ansieht, wer welche Studien finanziert hat.

So befasst sich eine der am häufigsten zitierten Arbeiten mit der Frage, ob der Verzicht aufs Frühstück beim Abnehmen hilft. Auf keinen Fall, behaupten die Autoren: Ihre Analyse liefere den „Nachweis, dass das Weglassen des Frühstücks keine effiziente Methode zur Gewichtsregulierung ist”. Den günstigsten Körpermasseindex weisen danach Personen auf, die morgens Cerealien essen. Finanziert hat die Studie: der Cerealien-Hersteller Kellogg’s.

Oder, ein anderes Beispiel, eine andere Studie. Deren Ergebnis: Ohne Frühstück lasse sich zwar leichter abnehmen, allerdings steige dafür der Cholesterinspiegel in unerwünschte Höhen. Diesmal trug die Firma Quaker Oats zur Finanzierung bei – und „mit hilfreichen Kommentaren” auch gleich zum Manuskript, wie dort freimütig vermerkt ist. Interessant ist das auch deshalb, weil Quaker Oats, eine Tochterfirma des Snack- und Limo-Herstellers Pepsico, einer der bedeutendsten Hersteller von Frühstücksflocken ist.

Inzwischen ist allerdings auch die Industrie selbst vorsichtiger geworden, zumindest, wenn sie nicht gerade Werbefilme dreht. Die bisher umfangreichste Untersuchung zum Thema Frühstück und Gesundheit ist finanziert von zwei Dutzend Nahrungsmittelkonzernen, darunter Kraft, Kellogg’s, McDonald’s, Dunkin’ Donuts. Fazit: „Im Gegensatz zu weithin vertretenen Auffassungen gibt es keinen wahrnehmbaren Effekt auf Erwachsene, die ihr Gewicht zu reduzieren versuchen.”

„Nachtmenschen kriegen kein Frühstück runter”

Forscher Raschka rät den Verbrauchern, sie sollten besser ihrer inneren Stimme folgen, statt sich von vermeintlich objektiven Studien irritieren zu lassen. Denn jeder Mensch sei anders. „Es gibt Eulen- und Lerchentypen. Nachtmenschen kriegen kein Frühstück runter, aber Frühaufsteher fühlen sich wohl damit. Beides ist in Ordnung.” Besorgten Eltern empfiehlt er, Kinder nicht zum Essen zu zwingen, wenn sie morgens keinen Hunger haben. „Aber immer etwas zum Trinken und ein gut belegtes Brötchen mitgeben – damit etwas da ist, wenn der Hunger kommt.”

Viele Ernährungsexperten tendieren heute zu der Ansicht, dass die Nährstoffreserven des Körpers drei bis fünf Mal täglich nachgefüllt werden sollten, am besten nach einem bestimmten Rhythmus. Der Rest sei weitgehend eine Frage von Gusto und Gewohnheit.

Andere Länder, anderes Frühstück

Schließlich unterscheiden sich die Gewohnheiten auch von Land zu Land drastisch. Die Franzosen haben mit Croissant und Café au Lait ein Weltreich erobert (und wieder verloren), die Briten dagegen mit dem üppigen „Full English Breakfast” samt Speckstreifen, Rühreiern, Porridge und braunen Bohnen, während die Japaner den Tag gerne mit Tofu, Fisch und rohen Eiern beginnen.

In Deutschland tun die Ernährungsfirmen derweil alles, um den schönen Schein des Frühstückens zu pflegen. Sie schwärmen vom „ersten kulinarischen Highlight” (Rama), vom „milden Frühstückssaft” (Hohes C), jubeln „Der Morgen macht den Tag” (Nutella). Mit den Klassikern macht die Branche die besten Umsätze. Marmelade: 544 Millionen Euro; süße Cremes: 427 Millionen Euro; Müsli: 393 Millionen. Im Jahr, wohlgemerkt. Das größte Wachstum erzielen sie derzeit mit Müslis, vor allem „bio” verkauft sich bestens.

Die Deutschen und ihr Frühstück – es ist eine Geschichte voller Widersprüche. Einerseits haben sie im Alltag immer weniger Zeit dafür, zumindest in der Woche. In allen Altersstufen, abgesehen von Menschen über 70, geht der Anteil der Frühstücker spürbar zurück, ermittelten Marktforscher der Nürnberger GfK. Von den 30- bis 39-Jährigen nehmen nur noch 54,8 Prozent regelmäßig zu Hause das erste Mahl des Tages zu sich.

Andererseits lieben sie ihr Frühstück mehr als andere Dinge, die sie sonst so lieben. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach jedenfalls wollte vor einiger Zeit wissen, was Deutsche besonders gerne mit ihrem Partner unternehmen. Eine der drei Antworten, die die Fragesteller ganz besonders häufig hörten, war: „In Ruhe gemeinsam frühstücken”. Gleich hinter „gemeinsamen Ausflügen” und „zusammen lachen”. Und deutlich vor „miteinander Sex haben”.

http://www.welt.de/wirtschaft/article156456525/Das-Maerchen-vom-wertvollen-Fruehstueck.html