Angela Merkel und Horst Seehofer müssen miteinander reden. Die Kanzlerin und der bayerische Ministerpräsident zählen zu den ersten Wahlleuten, die am Sonntag das Reichstagsgebäude betreten. Gegen 10.00 Uhr ziehen sie sich in Merkels Büro auf der Plenarsaalebene zurück. Zu besprechen gibt es genug vor dieser Präsidentenwahl, die Teilen der CDU/CSU so gar nicht schmeckt.
Warum? Wegen der für die Union unglücklichen Nominierung des Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier. Wegen des Streits zwischen CDU und CSU. Wegen der guten Umfragewerte der SPD, die so etwas wie Kanzlerinnen-Dämmerung aufkommen lassen. Wegen des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, mit dem Merkel und Seehofer an diesem Tag auch noch reden werden. Steinmeier selbst ist das geringste Problem.
Die wenigsten aus der Union, die Steinmeier später die Stimme verweigern, dürften dies aus Unbehagen über die Person tun. Es gibt für Wahlleute der CDU/CSU viele Gründe, Steinmeier nicht zu wählen. Ein wichtiger heißt Merkel, auch wenn die heute ein politisch korrektes Kostüm trägt. Gelb-Schwarz. Das erinnert an ganz andere Zeiten.
Christian Wulff ist auch da, er sitzt auf der Ehrentribüne, und flaniert zwischenzeitlich mit Ehefrau Bettina über die Flure des Reichstags. Natürlich, die beiden denken zurück an die denkwürdige Wahl im Juni 2010. Über neun Stunden dauerte die Bundesversammlung, drei Wahlgänge waren nötig, bis Wulff Präsident war. Heute wird es nur einen Wahlgang geben, Verdruss in der Union hin oder her. Steinmeier, sagt der Kurzzeit-Präsident Wulff, werde „gerade wegen seiner extrem vielen internationalen Kontakte ein sehr guter Bundespräsident sein“.
Zwei Frauen begleiteten Steinmeier
Bevor die Bundesversammlung zusammentritt, versammelt sich das politische Berlin (und viele der Wahlleute aus Mainz, Schwerin, Stuttgart, von dort also, wo Landespolitik gemacht wird) zur ökumenischen Andacht in der St.-Hedwigs-Kathedrale. Die Kirche ist voll, leer bleibt nur der Platz von Sigmar Gabriel.
Der neue Außenminister ist ja so etwas wie der Präsidenten-Macher und hatte den „lieben Frank“ bei einem SPD-Empfang am Vorabend kräftig feiern lassen, bevor er sich ins heimische Goslar fahren ließ. Steinmeier musste Hände schütteln, Selfies machen. Gute Einstimmung für die nächsten fünf Jahre. „Liebe Elke“, rief er seiner Ehefrau hier zu, „ohne dich könnte ich es nicht machen und hätte es ohne dich nicht gemacht.“ Ihr Frank werde ein „wunderbarer Bundespräsident“ sein, sagte Elke Büdenbender. Etwas nervös sei sie, vor dem Wahltag, vor dem Amt, vor ihrer Aufgabe als First Lady.
Am Sonntagmittag rahmen Elke Büdenbender und die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Frau ein, die stolzer kaum sein dürfte, die das aber mitnichten demonstriert: Ursula Steinmeier, 87, die Mutter des Außenministers a. D. Der an Grippe erkrankte Joachim Gauck, noch bis zum 18. März im Amt, und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt sitzen in der ersten Reihe. Die Wulffs dahinter haben Armin Müller-Stahl als Nachbarn.
Unten im Plenum sind knapp 1260 Wahlleute versammelt, erstmals einige der AfD, ganz rechts, Frauke Petry und ihr Kandidat Albrecht Glaser in Reihe drei, hinter Christian Lindner und Wolfgang Kubicki (beide FDP) in Reihe zwei. Angela Merkel und die Dragqueen Olivia Jones reden miteinander, das ist fast so ungewöhnlich wie die Szene, in der Oskar Lafontaine Steinmeier die Hand reicht. Jogi Löw fühlt sich bei den Grünen offenbar wohl.
Die elegante Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert macht deutlich, dass auch er präsidiabel wäre. Hätte Merkel ihn vielleicht nur öfter, früher bitten müssen? Zu spät. Er dankt Gauck, viel Applaus, auch bei den Linken. Nur bei der AfD bewegt sich keine Hand. Union, SPD, Grüne, FDP stehen auf. Linke und AfD bleiben sitzen. Solche Szenen sind aufklärerisch. (Die AfD klatscht am stärksten, als Lammert den Schriftführern dankt.)
Die Werte des Westens beschwört der – bald scheidende – Bundestagspräsident, Mitglied des Hohen Hauses seit 1980. „Selbstkritik und Selbstkorrekturen“ mahnt er an, den Historiker Heinrich August Winkler zitierend. Gegen Isolationismus und Protektionismus, gegen ein „Wir zuerst“ wendet sich Lammert. Eine schöne Anti-Trump-Rede. Abermals Ovationen im Stehen.
Leicht penetrant, etwas machtvoll kommt das daher. Und seit wann applaudiert die Linke eigentlich einem Plädoyer für Freihandel? „Wir selbst müssen Interesse an einem starken Europa haben“, sagt Lammert, verweisend auf das Desinteresse Donald Trumps und Wladimir Putins.
Wie schlimm wird das für Merkel?
Dann beginnt die Abstimmung. Ein Favorit, Steinmeier, und vier Zählkandidaten: Christoph Butterwegge (Linke), Albrecht Glaser (AfD), Alexander Hold (Freie Wähler), Engelbert Sonneborn (Piraten). In alphabetischer Reihenfolge werden die Wahlleute aufgerufen, von Jan van Aken bis Brigitte Zypries.
Das dauert über eine Stunde lang. Zeit genug für die Wahlleute, in der Lobby zu schlendern, Interviews zu geben, Köpfe zusammenzustecken. Das Hauptthema: Wie viele Unionsdelegierte verweigern Steinmeier wohl die Stimme? Und: Wie schlimm wird das für Merkel?
Sahra Wagenknecht kann das nur freuen, sie ist ja auch gegen Steinmeier, „neoliberal“ sei der, verkündet sie zum 327. Mal. Petry eilt forsch zum Kaffee. Olivia Jones sagt, sie habe für den Ex-Außenminister gestimmt. „Bedacht, klug deeskalierend“ sei der, und überhaupt, sie habe es sich im Reichstag „unterkühlter“ vorgestellt. An der Unionsfraktionssitzung hatte die Grünen-Wahlfrau nicht teilgenommen.
Gegen 14 Uhr füllt sich das Plenum wieder. Veronica Ferres plaudert mit Sigmar Gabriel. Der CDU-Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel braucht dringend ein Foto mit Steinmeier. Volker Kauder streicht nervös über die Lehne des leeren Angela-Merkel-Sessels. Noch einmal nimmt Steinmeier in der ersten Reihe der SPD-Fraktion Platz, zwischen Gabriel und Thomas Oppermann, vor Andrea Nahles. Diverse Blumensträuße liegen bereit.
„Oooh“-Rufe im Plenum
Um 14.15 Uhr verkündet Lammert das Ergebnis: 1253 abgegebene Stimmen, 14 davon ungültig, 103 Enthaltungen. „Oooh“-Rufe im Plenum. Lauter Beifall bei den Linken für Christoph Butterwegge (128 Stimmen, also mindestens 33 von Nicht-Linken). Bescheiden kurz steht der auf und dankt.
Anerkennend nickt Martin Schulz ihm zu. Albrecht Glaser (AfD, 42 Stimmen) gewann mindestens sieben Nicht-AfDler für sich. Eine kleine Drohung vom rechten Rand der Union? Beifall der AfD. Fernsehrichter Hold (Freie Wähler, 25 Stimmen) wurde gleich zweieinhalb mal so oft gewählt, wie seine Partei Sitze hat. Ein anonymer, bissiger Gruß der CSU? Für Sonneborn (Piraten, zehn Stimmen) nur Platz fünf.
Das Ergebnis für Steinmeier, 931 Stimmen, deutet auf eine kräftige Wahlverweigerung in den Reihen der großen Koalition hin, in Reihen der Union. Das offenbart sich bildlich, atmosphärisch, während Lammert die Stimmenzahl nennt.
Die SPD-Fraktion schießt förmlich nach oben, applaudiert, jubelt. Ähnlich halten es die Grünen, die zur großen Mehrheit für Steinmeier gestimmt haben dürfen. Die Unionsabgeordneten indes erheben sich gemächlich, applaudieren dann eher brav denn frenetisch.
Joachim Gauck, der erste Mann im Staate, gratuliert als Erster seinem Nachfolger, der ihn am 18. März beerben wird. Beifall im ganzen Haus, alle Fraktionen, auch Linke und AfD, haben sich erhoben. Merkel, Seehofer, Schulz, die Grünen-Spitze, Kauder gratulieren Steinmeier. Der nimmt seine Wahl an, „gerne sogar“. Der Glückwunschreigen geht weiter: Dutzende Gratulanten bauen sich vor der SPD-Fraktion auf. Geradezu verloren versinken Merkel, Kauder, Gerda Hasselfeldt in ihren Sesseln in der ersten CDU/CSU-Reihe.
Deutschland als ein „Anker der Hoffnung“
„So, Herr Steinmeier“, redet Lammert den – noch nicht vereidigten – gewählten Präsidenten protokollgemäß an, „wenn Sie mögen, erhalten Sie jetzt das Wort.“ Das will Steinmeier, und der findet wie fast immer konsensfähige Worte. Deutschland sei in „stürmischen Zeiten“ für viele Menschen in der Welt zu einem „Anker der Hoffnung“ geworden.
Wenn man anderen Mut machen wolle, „dann brauchen wir selber welchen“. Vom „Kitt der Gesellschaft“ spricht Steinmeier, von der Welt, die „aus den Fugen geraten“ ist. Das alles hätte man auch bei der Eröffnung einer Regionalkonferenz in Bielefeld oder einer Fachtagung in Cottbus sagen können. Aber vielleicht richtet Steinmeier seinen Appell („Liebe Landsleute, lasst uns mutig sein!“) auch an sich selbst. Im Umgang mit seiner neuen Macht, der des Wortes, bleibt jedenfalls noch Luft nach oben.
Das hält Merkel nicht davon ab, Steinmeier über den grünen Klee zu loben. „Ich bin überzeugt, er wird ein hervorragender Bundespräsident sein“, sagt Merkel kurz nach der Wahl. Sie traue ihm zu, „dass er unser Land sehr gut begleiten wird“.
Hatte diese Angela Merkel nicht noch vor einem Vierteljahr ihre CDU mehrfach wissen lassen, Steinmeier käme für sie als Präsident nicht infrage? Es scheint so, als hätten Teile der Union ihr den Meinungsumschwung nicht verziehen. Mancher Parteifreund hat Merkel diesen 12. Februar 2017 vermiest.
https://www.welt.de/politik/deutschland/article162028606/Warum-dieses-Wahl-Ergebnis-fuer-Merkel-zum-Problem-wird.html