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Unter Flüchtlingshelfern wächst die Terrorangst

Angehörige junger Menschen, die im Begriff sind, in den Islamismus abzudriften, können sich an die Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wenden. Dort werden sie telefonisch beraten. Seit den Anschlägen von Würzburg und Ansbach verzeichnet die Beratungsstelle steigendes Interesse: In jüngster Zeit melden sich zunehmend auch solche Menschen, die junge Flüchtlinge betreuen und deren Radikalisierung befürchten, wie Leiter Florian Endres erklärt.

2016-10-25_08-10-20

Die Welt: Herr Endres, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom Fall des verhinderten Selbstmordattentäters al-Bakr gehört haben?

Florian Endres: Das Geschehen muss man in das derzeitige Lagebild einordnen. Die reine Anschlagsplanung, die dschihadistisch motiviert scheint, ist keine neue Fallkonstellation.

Die Welt: Sie haben vor Kurzem gesagt, dass Sie aus Ihrer Erfahrung nicht an Turboradikalisierung glauben. Nun scheint es beim Chemnitzer Attentäter aber wieder so gewesen zu sein.

Endres: Dass sich Menschen innerhalb weniger Tage so stark radikalisieren, um anschließend einen dschihadistisch motivierten Anschlag auszuführen, ist äußerst selten. Ob es auch in diesem Fall schon im Vorfeld ideologisch geprägte Vorstellungen gab, müssen die weiteren Ermittlungen zeigen.

Aus unserer Erfahrung heraus können wir öfters das Gegenteil feststellen: Betroffene radikalisieren sich nicht aufgrund einer kurzfristigen Wandlung, sondern das geschieht über mehrere Wochen und Monate. Es gibt oftmals Anzeichen, die sehr lange vorhanden sind.

Die Welt: Was sind das für Anzeichen?

Florian Endres ist seit 2012 leitender Referent der Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF in Nürnberg

Florian Endres ist seit 2012 leitender Referent der Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF in Nürnberg

Quelle: PA/ dpa

Endres: Das ist immer eine Einzelfallgeschichte. Wenn sich Personen stark aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen, wenn Betroffene Andersgläubige im Gespräch abwerten oder plötzlich von Himmel, Hölle und Paradies sprechen, dann sind das klare Anzeichen, von denen wir auch immer wieder hören. Oder wenn auffällige Jugendliche mit schon aktiven Szenebezügen plötzlich ihr Kommunikationsverhalten besonders im Bereich der Social-Media-Angebote ändern und zum Beispiel den Kurznachrichtendienst Telegram (gilt als abhörsicher, d. Red.) nutzen – auch das kann ein Indiz sein, aufgrund dessen uns dann Angehörige kontaktieren.

Klar spielen in einigen Fällen auch Äußerlichkeiten eine Rolle: Wenn muslimische Mädchen nicht mehr nur mit Kopftuch, sondern gleich vollverschleiert das Haus verlassen möchten, ist das im Regelfall ein beunruhigendes Zeichen, das man abklären sollte. Natürlich rufen uns auch immer wieder Eltern an, wenn sie ein einziges arabischsprachiges Bild auf dem Handy ihrer Kinder entdecken. Das heißt zunächst meist nichts.

Die Welt: Wie reagieren Ihrer Erfahrung nach Angehörige auf diese Entdeckungen?

Endres: Manche loggen sich in die E-Mail-Konten ihrer Kinder ein. Oder versuchen die Telefonsperre des Smartphones zu knacken. Das ist natürlich äußerst kontraproduktiv, wenn es dann auffliegt. Bei der Deradikalisierung geht es ja gerade darum ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und das soziale Umfeld so zu stabilisieren, dass man an die Person herankommt. Es gibt Eltern, die geradezu physisch aggressiv werden, etwa den Koran des Kindes entsorgen oder mit der Schere anrücken, um den Bart zu schneiden. All das ist wenig hilfreich.

Die Welt: Ihre Beratungsstelle gibt es seit 2012, vor allem seit 2013 verzeichnen Sie eine Zunahme des Beratungsbedarfs. Wie ist denn momentan die Lage?

Endres: Wir haben in den letzten Monaten einen drastischen Anstieg von Anfragen und Telefonaten erlebt. Auslöser dafür waren die Anschläge in Würzburg und Ansbach. Das hat die Leute dazu gebracht, sich bei uns zu melden. Seitdem haben wir es mit 120 bis 150 Anrufen pro Monat zu tun. Bis Juni waren es um die 60 Anrufe im Monat.

Verändert hat sich auch die Natur der Anrufenden. Seit Juli rufen uns vermehrt Betreuer minderjähriger Flüchtlinge an oder sonstige Ehrenamtliche, die mit Flüchtlingen zu tun haben. Während bis Juni etwa 18 Prozent aller Anrufe Flüchtlinge betrafen, sind es inzwischen etwa 30 Prozent. Das ist ein Kraftakt für unser Team. Nach solchen Ereignissen ist das normal, da bedarf es viel Betreuung, und wir vermitteln dann weiter an Kooperationspartner vor Ort. Auch nach den Anschlägen in Paris war unsere Hotline hochfrequentiert.

Die Welt: Ist das das Thema der Zukunft: radikalisierte Flüchtlinge?

Endres: Noch sind die Zahlen verschwindend gering im Vergleich zu denjenigen, die hier aufgewachsen sind und sich dann radikalisieren. Trotzdem ist der Anstieg explosionsartig. Die Unsicherheit ist gestiegen. Grundsätzlich binden wir bei 20 Prozent der Fälle die Sicherheitsbehörden ein. Der Schnitt bleibt ungefähr gleich. Um Flüchtlingshelfer und -betreuer zu unterstützen, schicken wir Teams in die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, um vor Ort bei der Deradikalisierung zu helfen.

Die Welt: Wie viele Attentate haben Sie seit Sommer verhindern können?

Endres: Das ist eine Frage, die unmöglich zu beantworten ist. Wir bekommen natürlich Feedback von unseren Kooperationspartnern, schauen uns genau an, wie die Deradikalisierungsprozesse verlaufen. Wir wissen, wir haben einige junge Menschen wieder aus den Fängen des IS herausgeholt. Jeder einzelne ist für uns ein Riesenerfolg. Derzeit läuft eine Evaluation des Programms. Wir wollen genau wissen, ob unsere Mechanismen greifen.

Die Welt: Sie nennen sich etwas sperrig „Beratungsstelle Radikalisierung“, Ihre Telefonnummer ist siebenstellig samt Nürnberger Vorwahl. Fühlen Sie sich eigentlich ausreichend wahrgenommen in der Öffentlichkeit? Müsste nicht in diesen Zeiten eine dreistellige Notrufnummer zu Ihrer Behörde führen?

Endres: Unserer Anruferzahlen zeigen ja, dass unser Beratungsangebot bekannt ist, das mediale Interesse ist zudem extrem hoch. Die Nachbarländer haben sich unsere Ansätze genau angeschaut. Die Niederlande, Österreich und Frankreich haben jetzt eine ähnliche Nummer geschaltet.

Wir haben damals ganz bewusst diese Nummer gewählt, um den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie eben nicht anonym in einem Callcenter landen. Wir wollten ihnen das Gefühl geben, eine ganz spezielle Stelle für eine ganz spezielle Form von Hilfe erreicht zu haben. Das ist wichtig für die Ratsuchenden: Sie sollen wissen, das ist keine anonyme Hotline. Das schafft Vertrauen.

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Die Welt: Angenommen, ich beobachte als unbeteiligter Dritter einen sich seltsam verhaltenden Jugendlichen: Etwa jemanden, der laut Koranverse zitierend durch die Straßen läuft. Mal abgesehen vom Gefühl der Beklemmung, das so bei mir ausgelöst wird – kann ich mich in der Angelegenheit an Sie wenden?

Endres: Jein. Das betrifft primär die Sicherheitsbehörden, nicht unsere Angehörigenberatung. Wir nehmen jedoch auch solche Sachverhalte auf und versuchen dann, weiterzuvermitteln. Zum Beispiel an das Hinweistelefon des Verfassungsschutzes.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article159010049/Unter-Fluechtlingshelfern-waechst-die-Terrorangst.html

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