Die russische Zeitung «RBK» hat ihren vielleicht letzten Investigativ-Report veröffentlicht. Geht es nach den neuen Chefs, herrscht künftig Selbstzensur.
Es kommt nicht oft vor, dass eine russische Tageszeitung auf der Titelseite einen grossen investigativen Report über verdeckte Geschäfte von Freunden Präsident Wladimir Putins veröffentlicht. Noch seltener kommt es vor, dass bei den Namen von zwei Autoren ein Sternchen zu folgender Fussnote führt: «ehemalige Mitarbeiter». Denn zum Zeitpunkt der Publikation des aufwendig recherchierten Berichts waren diese Journalisten schon nicht mehr an Bord jener Zeitung, die in den vergangenen zwei Jahren zum vielleicht relevantesten Blatt Russlands aufstieg und am Donnerstag die undurchsichtigen Eigentumsverhältnisse rund um das exklusive Anwesen Putins nahe der Kleinstadt Waldai ausbreitete.
Freiwillig verlassen haben diese beiden Redaktoren und über ein Dutzend ihrer Arbeitskollegen die Zeitung «RBK», weil zuvor die Chefredakteure unfreiwillig gehen mussten – genau wegen solcher Berichte, sei es über Putins Tochter, Bereicherungen der Kreml-Elite oder die Verwicklungen von Putins Umfeld in Offshore-Geschäfte, wie sie die Panama-Papiere enthüllten. Das Panama-Eisen, das «RBK» im April als einzige grosse russische Zeitung anfasste, erwies sich als zu heiss: Die publizistische Leitung trat ab, und auch wenn offiziell nie ein Grund genannt wurde, so weiss doch jeder, warum.
Zu den Wissenden zählen auch die neuen Chefredaktoren, die von der staatlichen Nachrichtenagentur Tass kommen und sich vergangene Woche den Fragen der verbliebenen «RBK»-Redaktion stellten. Eine Aufzeichnung dieses Gesprächs, das viel über die Kultur der Selbstzensur in Russland verrät, ist an die Öffentlichkeit durchgesickert.
Laut der Mitschrift versuchten die beiden neuen Chefredaktoren gewunden, das Unvereinbare zu vereinbaren: An der Professionalität der Redaktion werde sich nichts ändern, versprachen sie, aber man wolle das publizistische Auto künftig so steuern, dass niemand verletzt werde: «Wenn man über eine doppelt durchgezogene Linie fährt, nehmen sie einem den Führerausweis weg.» – «Wo ist die durchgezogene Linie?» – «Unglücklicherweise weiss das niemand.» Die Linie bewege sich ständig, sagten sie. Und an Verkehrsregeln müsse man sich halten.
Als die Diskussion auf die Panama-Enthüllungen kam, wurde Generaldirektor Nikolai Molibog deutlich: «Es hat sich gezeigt, dass wir die Linie überquert haben. Ist das Beispiel klar?» Allerdings sei es auch nicht so, dass die Kreml-Administration jedes Mal in einem kleinen Handbuch nachschlage, was erlaubt sei und was nicht, fügte einer der neuen Chefs hinzu.
Damit scheint deutlich: Nicht klare, scharfe Eingrenzung, sondern permanente Unsicherheit ist der Schlüssel zur Zensur. Ob ein Medium mit einem Bericht den Zorn von oben auf sich zieht, erfährt es im Zweifel erst nach der Publikation – wenn es zu spät ist. Also publiziert es gar nicht und verschweigt damit vielleicht auch Sachverhalte, die ihm nicht zum Verhängnis geworden wären. Das ist ein doppelter Gewinn für ein Regime, dem jede Art unkontrollierter Information unliebsam ist.
Der neue Bericht über Immobiliengeschäfte in dem 350 Kilometer nordwestlich von Moskau gelegenen Waldai kann als Versuch gesehen werden, die durchgezogene Linie zu finden. Putin unterhält dort eine grosse Residenz, aber neben Grundstücken im Staatsbesitz werden knapp 100 Hektaren (mehr als das Doppelte der Fläche der Vatikanstadt) einer Privatfirma zugerechnet, die Putins Vertrautem Juri Kowaltschuk und dessen Sohn gehört. Wie die Firma zu dem Land kam, ist unbekannt. Jedenfalls hat der Kreml es wieder zurückgemietet, und mit ihm auch zwei Restaurants und einen Golfplatz.
Weil hier «nur» undurchsichtige Geschäfte und Staatsvermögen betroffen sind, aber nicht direkt die persönlichen Finanzbeziehungen Putins oder seiner Verwandten, könnte der lange vorbereitete Bericht ein Test sein, den auch die neue Chefredaktion noch verantworten möchte. Sollte er scheitern und das Blatt auf jene brave Linie einschwenken, wie sie Russlands andere Zeitungen verfolgen, wäre das ein arger Verlust. Dann bliebe Investigatives weitgehend wenig beachteten Einzelkämpfern überlassen. Der Anti-Korruptions-Blogger Alexei Nawalny veröffentlichte am Donnerstag einen Bericht, wonach der Vizeregierungschef Igor Schuwalow einen Privatjet einsetzt, um seine Hunde zu Züchterausstellungen fliegen zu lassen.
http://www.nzz.ch/international/europa/selbstzensur-in-russland-rote-linien-fuer-journalisten-ld.105842