Die Türkei soll die Visa-Liberalisierung erhalten, muss aber bis im Juni noch fünf weitere Kriterien erfüllen. Ein Massenansturm türkischer Bürger wäre unwahrscheinlich – dennoch will die EU mit einer Notbremse vorsorgen.

Reisefreiheit für Türken mit Vorbehalten
EU-Kommissionsvizepräsident Timmermans stellt die Massnahmen vor.(Bild:Reuters )

Die Reisefreiheit für die 75 Millionen Türken in den Schengenraum ist am Mittwoch ein gutes Stück näher gerückt. Die EU-Kommission hat dem EU-Parlament und dem Rat der EU-Staaten formell vorgeschlagen, die Visapflicht für Türken per Ende Juni aufzuheben – in der Annahme, dass Ankara bis im Juni die verbleibenden 5 der insgesamt 72 Kriterienerfüllen wird, die im Visa-Liberalisierungs-Fahrplan vorgesehen sind. «Die Türkei hat eindrückliche Fortschritte gemacht», sagte der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans. Wenn Ankara das eingeschlagene Reformtempo aufrechterhalte, werde die Türkei die noch ausstehenden Kriterien rechtzeitig erfüllen.

Konzession an Zyprioten

Die Empfehlung der Kommission ist zum einen politisch motiviert, da die EU-Regierungschefs Ankara im Rahmen des Flüchtlings-Deals die vorzeitige Befreiung von der Visumspflicht bis Ende Juni in Aussicht gestellt haben. Für den Fall, dass die Reisefreiheit nicht gewährt wird, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits offen damit gedroht, den Flüchtlings-Deal platzen zu lassen. Dies will die EU verhindern, da der Deal zu einer starken Reduktion der Flüchtlingszahlen in der Ägäis geführt und der EU in der Flüchtlingskrise eine Verschnaufpause beschert hat.

Zum anderen hat die Türkei in der Tat grosse Anstrengungen unternommen, um die Kriterien zu erfüllen. Anfang März hatte sie erst 35 Bedingungen erfüllt gehabt, nun bescheinigt die Kommission Ankara die Erfüllung von 67 Kriterien. In den den letzten Tagen und Wochen wurden laut einem EU-Beamten Aktionspläne gegen die Korruption und zur Integration der Roma verabschiedet und internationale Konventionen ratifiziert. Am Montag beschloss Ankara, künftig allen EU-Bürgern (also auch den Zyprioten) die visafreie Einreise zu ermöglichen, womit laut der Kommission eine wichtige politische Hürde aus dem Weg geräumt ist.

Terror-Gesetze als Knacknuss

In 5 Bereichen erwartet Brüssel von der türkischen Regierung aber dringend weitere Fortschritte: Bei der Angleichung des Datenschutzes an EU-Standards, der Zusammenarbeit mit der EU-Polizeibehörde Europol, der Justiz-Kooperation sowie bei der Gesetzgebung zur Korruptionsbekämpfung aufgrund von Empfehlungen des Europarats.Die für die Türkei heikelste Bedingung ist aber die geforderte Revision der Anti-Terrorgesetze, die ebenfalls an EU-Standards angeglichen werden müssen. Konkret geht es darum, die Terror-Tatbestände viel enger zu fassen – heute dienen die Gesetze auch zur Verfolgung regierungskritischer Journalisten.

Abzuwarten bleibt daher, ob sich die Türkei auch in diesem Bereich bewegen wird – bisher hat sie dazu keinerlei Anstalten gemacht. Die EU-Kommission und die EU-Staaten haben mehrfach betont, den Türken die Visa-Freiheit nur gewähren zu wollen, wenn alle 72 Kriterien tatsächlich erfüllt sind. Vor dem Hintergrund des Flüchtlings-Deals dürfte es für Brüssel nun aber politisch nicht einfach werden, die Visa-Liberalisierung nach der positiven Empfehlung der Kommission noch zu blockieren. Die Massnahme betrifft auch die Schweiz als Mitglied des Schengen-Raums.

Biometrischer Pass ist Pflicht

Ein weiteres Kriterium ist aus praktischer Hinsicht wichtig: Die Türkei muss neue biometrische Pässe ausstellen, in denen die Fotos sowie die Fingerabdrücke auf Chips gespeichert sind. Laut einem EU-Beamten genügen die vereinzelten biometrischen Pässe, die in der Türkei bereits im Umlauf sind, den Anforderungen nicht. Fest steht, dass nur türkische Bürger ohne Visum in den Schengenraum einreisen könnten, die im Besitz eines neuen biometrischen Passes sind.

Da die Türkei maximal 10’000 solcher Pässe pro Tag produzieren kann und der Erwerb eines solchen Reisedokuments relativ teuer ist, wäre es nur ganz wenigen Türken möglich, bereits ab Juli ohne Visum in die EU zu reisen. Die grosse Mehrheit der türkischen Bürger ist heute noch nicht einmal im Besitz eines herkömmlichen Passes.

Eine Klausel für den Notfall

Dennoch will sich die EU für den Fall rüsten, dass unerwartet viele Türken einreisen und über die erlaubte Dauer von 90 Tagen hinaus irregulär im Schengen-Raum verbleiben. Konkret schlägt die EU-Kommission vor, einen bereits bestehenden Notfallmechanismus für die Sistierung der Reisefreiheit zu reformieren, damit diese Notbremse künftig rascher und öfter aktiviert werden kann. Die Reform dieser Schutzklausel würde auch auf andere Staaten angewendet, deren Bürger ohne Visum in den Schengenraum reisen dürfen.

Die Reisefreiheit für Türken will die EU-Kommission überdies mit zwei weiteren Vorbehalten versehen. Zum einen will sie den Visumszwang wieder einführen, wenn die Türkei bei den 72 vereinbarten Kriterien wieder Rückschritte macht. Zum anderen soll die Reisefreiheit nur so lange gelten, wie die Türkei ihre Pflichten aus dem Flüchtlingspakt erfüllt – also die Grenzen sichert und Flüchtlinge aus Griechenland zurücknimmt.

Verlängerung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum

(dpa) Wegen Mängeln beim Schutz der EU-Aussengrenze in Griechenland will Brüssel verlängerte Grenzkontrollen im Schengen-Raum genehmigen. Die Kontrollen sollten für zunächst weitere sechs Monaten erlaubt werden, schlug die EU-Kommission in Brüssel vor. Die EU-Staaten müssten dem zustimmen. Fünf der 26 Schengen-Staaten kontrollieren derzeit ihre Grenzen unter Verweis auf die Flüchtlingskrise. Es handelt sich um Deutschland, Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark. Diese vorübergehenden Kontrollen könnten viermal bis zu einer Dauer von höchstens zwei Jahren verlängert werden, wenn das Funktionieren des reisefreien Schengen-Raums insgesamt auf dem Spiel steht. Frankreich kontrolliert ebenfalls, begründet dies aber mit dem Ausnahmezustand nach den Pariser Terroranschlägen vom November. Deshalb gelten hier andere Regeln.

http://www.nzz.ch/international/europa/eu-und-visumsfreiheit-fuer-tuerken-der-ball-liegt-in-ankara-ld.17957