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Rätsel um totgesagten Jihadisten

Vor einem Jahr soll der 19-jährige Winterthurer Jihadist Christian I. ums Leben gekommen sein. Gleichwohl plant die Schweiz nun seine Ausbürgerung. Das könnte auch anderen drohen.

«Und bekämpft die Götzendiener allesamt, wie sie euch allesamt bekämpfen», postet Christian I. im Mai 2015 auf seinem Facebook-Profil. Es ist ein Zitat aus einer Koran-Sure. Darunter veröffentlicht er Bilder, die ihn in Kampfmontur zeigen – zusammen mit anderen Jihadisten. Eine Eistee-Flasche, eine Packung «Kinder-Schokolade» und ein Teller Pommes sollen die scheinbare Normalität im Kalifat darstellen; plumpe Propaganda für den Islamischen Staat.

Der 19-Jährige ist Anfang des vergangenen Jahres über die Türkei nach Syrien gereist und hatte sich dort der Terrormiliz angeschlossen. In sozialen Netzwerken nennt er sich fortan Abu Malik. Auf einem der letzten Bilder, das er auf seinem Facebook-Profil veröffentlicht, posiert er stolz mit grüner Sturmmaske und zwei Sturmgewehren im Anschlag. Zuvor kursierte ein verstörendes Bild, auf welchem er den Kopf eines Enthaupteten hält.

Internationaler Haftbefehl

Kurze Zeit später wird der schweizerisch-italienische Doppelbürger aus dem Winterthurer Stadtteil Wülflingen für tot erklärt. Er soll bei einem Raketenangriff der US-Armee ums Leben gekommen sein.

Doch nun, fast ein Jahr nach dem letzten Lebenszeichen, hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) ein Verfahren eröffnet, um den jungen Mann auszubürgern. Darin fordert das Amt den Betroffenen auf, innerhalb eines Monats «zu einem allfälligen Entzug des Schweizer Bürgerrechts Stellung zu nehmen». Es wäre das erste Mal seit 1953, dass es zu einem solchen Verfahren kommt. Das Bürgerrechtsgesetz lässt einen Entzug der Staatsangehörigkeit zu, wenn «ein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist».

Lebt der 19-Jährige also noch? Eine offizielle Bestätigung dazu gibt es zwar nicht. Doch laut gut informierten Quellen soll er sich noch immer in Syrien aufhalten. Dafür spricht auch, dass ein Ausbürgerungsverfahren bei einem klar festgestellten Ableben des jungen Mannes gar nicht erst angestrengt worden wäre.

Derzeit wird mit internationalem Haftbefehl nach dem jungen Mann gefahndet. Zu den konkreten Vorwürfen gegen ihn will sich das SEM nicht äussern. Klar ist jedoch: Der Entzug des Schweizer Bürgerrechts ist eine Ultima Ratio. «Der Artikel ist seit Inkrafttreten nie zur Anwendung gekommen, weil die Anforderungen sehr hoch sind», sagt SEM-Sprecherin Léa Wertheimer auf Anfrage. «Wir sprechen hier von Greueltaten, Kriegsverbrechen und Ähnlichem.» Zudem könne auch eine konkrete Bedrohung für die Schweiz dazukommen, ergänzt Wertheimer.

16 Doppelbürger im Jihad

Hat der Islamische Staat ein Interesse daran, eigene Kämpfer für tot zu erklären? Möglich ist, dass damit die Sicherheitsdienste in Europa von falscher Sicherheit ausgehen sollen. Wer tot ist, wird nicht beobachtet oder gesucht. Das wäre vor allem dann hilfreich, wenn potenzielle Attentäter nach Europa zurück geschleust werden sollen. Diese Strategie unterscheidet sich etwa von derjenigen der Kaida. Wenn diese in der Vergangenheit einen ihrer Angehörigen für tot erklärte, stimmte das in der Regel auch. Eine Rückschleusung von Jihadisten hält Extremismusforscherin Christina Schori Liang allerdings eher für zweitrangig. Sie arbeitet für die internationale Stiftung Geneva Centre for Security Policy (GCSP) mit Sitz in Genf. Tote oder für tot erklärte Jihadisten seien vor allem auch ein Propagandamittel für die Terrormiliz, sagt sie. «Die Jihadisten werden zu Märtyrern erklärt.» Entscheidend sei aber, dass sie durch ihre Profile im Internet weiterleben und so für den Islamischen Staat zum Propagandamittel werden. Das zeige auch die visuelle Aufmachung.

Eines der wichtigsten Ziele der Propaganda ist laut Schori Liang die religiöse Migration ins Kalifat. «Sie soll allen ausländischen Kämpfern zeigen, dass das Kalifat der einzige Ort ist, an dem die Religion richtig gepredigt wird.» Wolle man ein guter Muslim sein, müsse man nach Syrien oder in den Irak reisen.

Entzieht die Schweiz dem 19-Jährigen das Bürgerrecht, kann ihm die Einreise verweigert werden. Christian ist nicht der einzige Doppelbürger aus der Schweiz, der für die Terrormiliz aktiv ist. Von den 74 Jihad-Reisenden, die der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) laut eigenen Angaben registriert hat, sind 16 Personen im Besitz von zwei Pässen. Insider schätzen einige dieser Jihadisten aus der Schweiz für gefährlicher ein als Christian. Eine Mehrheit von ihnen sei militärisch ausgebildet worden, mehrere haben auch an Sprengstoff trainiert. Einige sollen gar innerhalb des Islamischen Staates aufgestiegen sein und Gruppen bis zu 50 Mann führen. Äussern wollen sich die Ermittlungsbehörden dazu jedoch nicht. Auch ob weitere Ausbürgerungsverfahren geprüft werden, will das SEM aus taktischen Gründen nicht sagen.

60 Personen auf dem Radar

Christian verkehrte in denselben Kreisen wie das Winterthurer Geschwisterpaar, das Ende des letzten Jahres auf bisher ungeklärtem Weg aus Syrien ausreisen konnte und sich mittlerweile in Gewahrsam der Jugendanwaltschaft befindet. Belegt sind auch Kontakte zum zweifachen Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi, in dessen Nähe sich Christian in Syrien aufhielt, und zu einem 25-Jährigen, der im letzten Juli kurz vor der Abreise am Flughafen Zürich festgenommen worden war. Gashi selbst soll inzwischen ebenfalls durch einen Bombenangriff getötet worden sein.

Wendepunkt in Christians Leben war der Herbst 2014: Am Anfang der Radikalisierung standen eine Sportverletzung und die darauffolgende Arbeitsunfähigkeit. Sie führten zur Abkehr von seinem bisherigen Leben. Er konvertierte zum Islam, brach die Lehre ab, wurde immer radikaler. Schliesslich stellte ihn sein Vater vor die Tür. Es war ein endgültiger Bruch.

Mindestens ein Dutzend junger Menschen taten es ihm gleich und reisten aus Winterthur nach Syrien, um sich dem IS anzuschliessen. Der Extremismus hat in der Eulachstadt eine Basis. Die Islamistenszene ist in den letzten Monaten weiter gewachsen. Waren es vor einigen Monaten noch 30 bis 40 Personen, zählen die Ermittler inzwischen rund 60 Personen zu der losen Gemeinschaft, die aus einigen Leitwölfen und mehreren Dutzend Anhängern besteht. Das heisst, mehr als jeder Zehnte der rund 500 potenziellen Jihadisten, die der NDB derzeit auf dem Radar hat, kommt aus dem Grossraum Winterthur. Sie waren den Ermittlern in sozialen Netzwerken durch die Verbreitung von jihadistischem Gedankengut aufgefallen.

Islamistische Netzwerke gibt es aber nicht nur im Grossraum Winterthur. Auch Basel, Biel, Genf, Lausanne und Yverdon-les-Bains sind auf dem Radar der Behörden. Die «Tribune de Genève» berichtete kürzlich über mehrere junge Männer aus Genf, die in den Jihad gereist waren. Ihre Fälle zeigen die Limiten der Ermittlungsbehörden auf. Obwohl die Polizei nämlich Kenntnis hatte von ihren Plänen, konnte sie die Männer nicht von der Abreise abhalten. Zu den konkreten Fällen will sich das Bundesamt für Polizei nicht äussern. Momentan seien Zwangsmassnahmen wie der Entzug des Passes oder eine Meldepflicht aber nur möglich, wenn ein Strafverfahren laufe und wenn ein dringender Tatverdacht bestehe, sagt Sprecherin Cathy Maret.

«Es braucht eine wirkungsvolle Gegenstrategie»

fbi. ⋅ Militärisch befindet sich die Terrormiliz Islamischer Staat seit geraumer Zeit in der Defensive. Dies gilt allerdings nicht oder nur begrenzt für den Propagandakrieg im Internet. Der Hochglanz-Kampagne hatte der Westen bisher nur sehr wenig entgegenzusetzen. «Es braucht eine wirkungsvolle Gegenstrategie», sagt Extremismusforscherin Christina Schori Liang. Zurzeit beschränke man sich zu sehr auf militärische Gewalt. «Man muss aber auch die Ideologie hinter dem Kalifat zerstören.» Der Islamische Staat nutze das Internet sehr geschickt, um Anhänger zu rekrutieren. «Die visuelle Darstellung ist sehr verfänglich.» Man müsse deshalb auf allen Kanälen aufzeigen, dass die Terrormiliz eine Bedrohung für unser Leben, unsere Kultur und unsere Menschlichkeit sei. Und die Schweiz spiele hier als neutraler Staat eine wichtige Rolle. «Man muss eine Alternative anbieten können.» Für einen bedeutenden Schritt hält Schori Liang den aussenpolitischen Aktionsplan, den Bundesrat Didier Burkhalter im April in Genf an einer von der Schweiz und der Uno organisierten Konferenz über gewalttätigen Extremismus vorstellte. Der Aktionsplan soll Staaten und betroffene Gemeinschaften darin unterstützen, das gesellschaftliche Umfeld so zu gestalten, dass sich die Menschen nicht zu politisch oder ideologisch motivierter Gewalt hinreissen und nicht von gewalttätigen Extremisten anwerben lassen. «Das kann die Welt besser machen», findet Schori Liang.

http://www.nzz.ch/zuerich/aktuell/raetsel-um-winterthurer-islamisten-der-totgesagte-jihadist-ld.86437

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