Dass Karl-Heinz Rummenigge in der Nacht zum Mittwoch auf griffige Rhetorik gepolt war, ließ sich schon kurz nach Abpfiff des Champions-League-Dramas des FC Bayern bei Real Madrid erahnen. „Unsere Mannschaft liegt in Trümmern“, berichtete er da, als käme er nicht aus einer Fußballerkabine, sondern direkt von der Front.

Was in jenem Moment noch keiner wusste: Nicht nur hatte sich Mats Hummels so heroisch wie am Ende humpelnd über die 120 Minuten im Estadio Santiago Bernabeu geschleppt, nicht nur waren auch die ebenfalls angeschlagenen Jerome Boateng und Robert Lewandowski an ihre Schmerzgrenze gegangen – in der Verlängerung hatte sich auch Manuel Neuer so schwer verletzt, dass er für die restliche Saison ausfallen wird. „Er hat sich den Fuß gebrochen“, informierte Rummenigge später im Verlauf seiner traditionellen Bankettrede auf Auswärtsreisen. „Beim 3:2 – das eigentlich Abseits war.“

Der Vorstandsvorsitzende kam damit auch bei seinem Exkurs ins Lazarett auf seine eigentliche Schlüsselbotschaft zurück, die er zuvor so überlegt wie drastisch formuliert hatte. Nach einem Spiel, „das Geschichte geschrieben hat“, frage er sich: „Was machen eigentlich diese Verbände? Wir haben sechs Schiedsrichter auf dem Platz, sechs. Aber wir haben eine Gelb-Rote-Karte, der nicht mal ein Foul vorausging, und wir haben zwei Abseitstore zu (Real Madrids) 2:2 und 3:2.“

Rummenigge hielt kurz inne: „Ich habe heute zum ersten Mal so etwas wie eine wahnsinnige Wut in mir. Weil wir beschissen worden sind.“ Und wie um sich selbst seiner unerhörten Worte zu versichern, wiederholte er: „Wir sind beschissen worden.“ Es folgte donnernder Applaus der anwesenden Sponsoren und Gäste.

Ungewohnte Töne also, aber der FC Bayern fand sich ja auch in ungewohnter Opferrolle wieder. Normalerweise gilt er eher als von den Schiedsrichtern geküsst. Noch vorige Woche im Hinspiel gab es etwa einen unberechtigten Elfmeter (Arturo Vidal verschoss).

Vidal: „Wir wurden beklaut“

Wie viele Gegner der Münchner haben nach Niederlagen schon Verschwörungstheorien bemüht? Nun fühlten sich die Bayern selbst betrogen durch die Entscheidungen des Ungarn Viktor Kassai zugunsten von Real Madrid, einer anderen Mannschaft, der traditionell ein Schiedsrichterbonus unterstellt wird.

Nun waren es Vidal, Robert Lewandowski und Thiago Alcantara, die spanischen Medienberichten zufolge von der Polizei aus der Schiedsrichterkabine abgeführt wurden – so gefährlich und heftig hätten sie ihn beschimpft. „Heftig, dass man dir so ein Spiel klaut“, zürnte Vidal später weiter. „Der Schiedsrichter hat uns rausgeworfen. Real hatte keinen Stich. Alle Welt, die etwas von Fußball versteht, hat das gesehen.“ Thiago orakelte: „Externe Elemente, die ihr alle kennt, haben uns eliminiert.“

Bayern Munich's Chilean midfielder
Arturo Vidal verschoss im Hinspiel einen Elfmeter, im Rückspiel flog er vom Platz

Quelle: AFP

Die besonneneren Charaktere im Team äußerten sich weniger geheimnisvoll, aber in der Sache ähnlich. „Ein Wahnsinn“, fand Arjen Robben. Selbst der sonst notorisch tiefenentspannte Trainer Carlo Ancelotti schimpfte: „Die Uefa muss entweder einen besseren Schiedsrichter schicken oder den Videobeweis einführen.“

Dass Kassai einen „eklatant schlechten Tag“ (Hummels) erwischt hatte, war unbestritten. Er lag in kaum einer Schlüsselentscheidung richtig, und die Münchner hatten daran letztlich schwerer, aber nicht ganz so exklusiv zu tragen, wie sie es darstellen. Sie wären bei normalen Pfiffen womöglich nicht mal in die Verlängerung gekommen, denn der Elfmeter zum 0:1 (Casemiro an Arjen Robben) war nicht unumstritten, und das 1:2 durch ein Eigentor von Sergio Ramos hätte wegen einer vorangegangenen Abseitsstellung wohl nicht zählen dürfen.

Danach benachteiligte Kassai dann tatsächlich massiv die Bayern. Ronaldos 2:2 auf Flanke von Ramos fiel aus klarer, sein 3:2 nach brillantem Solo von Marcelo aus knapper Abseitsposition. Und ja, Vidal kassierte seine zweite Gelbe Karte, die in der 84. Minute Bayerns Unterzahl verursachte, für ein regelkonformes Tackling. Für andere Fouls zuvor hätte er allerdings bereits längst die zweite Verwarnung bekommen können. Wie im Übrigen auch Reals Casemiro, um das Puzzle des Abends zu vervollständigen.

Abschied von Lahm und Alonso

So wüst war die Polemik, so groß die Empörung, dass ein feierlicher Aspekt der Nacht in Rummenigges Rede komplett unterging. Mit Philipp Lahm und Xabi Alonso absolvierten zwei prägende Figuren des letzten Fußball-Jahrzehnts ihr letztes Europacup-Spiel, was immerhin Hummels würdigte.

„Da haben zwei große Spieler heute auf passende Weise, mit einem großen, spektakulären Spiel, ihre Champions-League-Karriere beendet.“ Während Lahm in der Dopingprobe festhing, schlenderte Alonso schon zum Ausgangsbereich, gelassen und altersweise. „Philipp und ich haben es bis zum letzten Moment genossen“, sagte er und erinnerte unausgesprochen daran, dass Ausreden und Schuldzuweisungen letztlich nur etwas für Verlierer sind. „Es ist schade, aber es muss weitergehen. Das ist der Bayern-Spirit: immer weitermachen.“

Den kennt natürlich auch Karl-Heinz Rummenigge. Das Pech von Madrid verortete er in einer Reihe mit zwei anderen Bayern-Unglücken, den tragischen, aber von baldiger Erlösung gefolgten Finalpleiten gegen Manchester United (1999) und Chelsea (2012). „Aus Niederlagen, dafür sind wir beim FC Bayern bekannt, haben wir oft Kraft gezogen.“

Und weil er rhetorisch schon mal so mutig dabei war, zitierte er vor Eröffnung des Buffets noch eine Weisheit, die zwar nicht, wie von ihm vermutet, dem Dichter Hugo von Hofmannsthal, sondern dem britischen Ex-Premier David Lloyd George zugeschrieben wird, aber zweifelsohne eine sinnvolle Botschaft enthielt: „Der Beweis von Heldentum liegt nicht im Gewinnen einer Schlacht, sondern im Ertragen einer Niederlage.“

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