Am Tiefpunkt sind die türkisch-europäischen Beziehungen schon lange, aber zur Scheidung wird es wohl nie kommen. Zwar hat das Europäische Parlament eine Suspendierung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. Aber als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag erstmals seit dem Putschversuch vom vergangenen Sommer in Brüssel war, wurde er weiterhin von der EU-Führung und Europas maßgeblichen Politikern hofiert.

Am Rande des Nato-Gipfels traf er den EU-Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk; das Gespräch, so hieß es, sei „positiv“ verlaufen. Die Wahrheit ist: Europa wird die Türkei nicht los. Zu eng sind ihre Geschichte, Wirtschaft und Politik miteinander verflochten.

1. Geografie

Nur das Gebiet westlich des Bosporus liegt auf dem europäischen Kontinent. Lediglich ein Teil des Landes, den aber kann man kaum abschneiden.

2. Demografie

So viele Türken oder Menschen türkischer Abstammung leben schon so lange in so vielen EU-Ländern – je nach Schätzungen zwischen fünf und zehn Millionen Menschen –, dass sie längst ein prägender Bestandteil dieser Gesellschaften geworden sind. Auch politisch erhalten sie immer mehr Bedeutung. Am deutlichsten wurde das am Streit über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Österreich, Deutschland und den Niederlanden – drei Länder, in denen besonders große türkische Gemeinschaften leben.

Sie sind seit Generationen da, sie pflegen oft ihre Identität als Türken, ihr Anteil an der Gesellschaft wächst dynamisch. Je mehr Zeit vergeht, desto angebrachter wird es, sie bereits als ethnische Minderheiten zu bezeichnen – mit engen kulturellen und politischen Bindungen an das Mutterland. Die Türkei versucht mit beträchtlichem Erfolg, diese „Diaspora“ politisch zu formen. Für Europa bedeutet das: Eine offene Konfrontation mit der Türkei kann zu Konflikten in den eigenen Ländern führen, eine erfolgreiche Integrationspolitik setzt konstruktive – aber durchaus auch wehrhafte – Beziehungen zur Türkei voraus.

3. Geschichte

Die europäische Identität, insofern es sie gibt, hat sich auch am langen Konflikt mit dem Osmanischen Reich herausgebildet – die Seeschlacht von Lepanto 1571, die zweite Belagerung Wiens 1683, die Befreiung Budas 1686 sind ebenso prägende Momente der europäischen Geschichte wie der Fall Konstantinopels 1453. Umgekehrt ist das Streben nach Europa ein wesentlicher Kern des türkischen Selbstbildes. So sehr sich Türken und Europäer bekämpften, so sehr waren sie auch immer voneinander fasziniert. Die Türkei und Europa, das ist ein zusammenhängender geohistorischer Raum.

4. Sicherheit

Vom Flüchtlingsdeal bis zur türkischen Rolle in der Nato als nominell zweitstärkste oder doch zumindest zweitgrößte Armee der Allianz – die Türkei spielt eine wichtige Rolle für die Sicherheit Europas. In gewissem Sinne war die europäische Entscheidung, dem Land die Beitrittskandidatur zu gewähren, auch eine sicherheitspolitische Entscheidung.

Man sah die Türkei als potenzielles Modell für die islamische Welt, als erfolgreiche, marktwirtschaftliche, gemäßigt islamische Demokratie. Dieses Potenzial hat die Türkei trotz Erdogan immer noch – irgendwann wird es ihn nicht mehr geben. Europa kann und will auf diese Hoffnung einer irgendwann viel „europäischeren“ Türkei nicht verzichten.

5. Anti-Terror-Kampf

Die islamischen Terrornetzwerke in Europa verlaufen in beträchtlichem Ausmaß über die Türkei. Ein Bruch mit Ankara würde den Verlust wertvoller Informationen und Hilfe im Kampf gegen den Terror bedeuten.

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6. Wirtschaft

Besonders die deutsche und die türkische Wirtschaft sind eng verflochten, mehrere Tausend deutsche Unternehmen sind in der Türkei vertreten. Im Jahr 2015 exportierte Deutschland Waren im Wert von 22 Milliarden Euro in die Türkei, der gegenseitige Handel wächst seit vielen Jahren sehr dynamisch. Für beide Seiten wäre es nachteilig, wenn aus politischen Gründen die Wirtschaftsbeziehungen leiden sollten.

7. Energie

Vor Zypern und vor Israel liegen riesige Gasvorkommen, die nur genutzt werden können, wenn das Gas über die Türkei nach Europa gebracht werden kann. Erdöl aus dem Irak gelangt unter anderem über die Türkei auf den Weltmarkt. Neue Gaspipelines sollen russisches und aserbaidschanisches Gas über die Türkei nach Europa bringen. Wie man es dreht und wendet, die Türkei wird in Zukunft ein energiepolitischer Knotenpunkt für Europa sein.

8. Außenpolitik

Im Nahen Osten rivalisieren Europa und die Türkei, beide wollen die Länder der Region politisch und wirtschaftlich an sich binden, um Migration und islamische Radikalisierung im Zaum zu halten. Eine erfolgreiche Befriedung der diversen Krisenherde in Nordafrika und im Nahen Osten liegt in Europas Interesse, das dürfte aber sehr viel schwieriger werden ohne ein grundsätzliches Einvernehmen mit der Türkei.

9. Europäische Union

Ein kompletter Bruch mit der Türkei wäre zutiefst demoralisierend für das europäische Projekt. Die Beitrittskandidatur zu stoppen, nachdem sie im Jahr 2004 mit großen Fanfaren verkündet worden war, wäre ein wenig wie der Brexit: eine Botschaft des Scheiterns, ein erneut geschrumpfter europäischer Traum, mit Auswirkungen auch auf die Beitrittsperspektiven der Länder des westlichen Balkans. Sollte dort eine Desillusionierung mit der EU einsetzen, drohen erneut auch bewaffnete Konflikte auszubrechen. Das alles bedeutet nicht, dass die Türkei EU-Mitglied werden muss. Aber die EU-Kandidatur formal zu suspendieren, das dürfte Europa aus all diesen Gründen sehr schwerfallen.

https://www.welt.de/politik/ausland/article164976132/Neun-Gruende-warum-die-Tuerkei-und-Europa-sich-brauchen.html