Auch 30 Jahre nach Tschernobyl sind die Folgen der Katastrophe nicht bewältigt. Der havarierte Reaktor ist für viele Anwohner aber auch ein Arbeitgeber, und auch Reiseführer verdienen Geld mit Katastrophe-Touristen.

Mit dem Selfie-Stick in die Sperrzone
(Der Unglücksreaktor mit der Schutzhülle über dem Reaktorgebäude. Bild: Roman Pilipey / EPA)

Die Fahrt in das Herz der Sperrzone dauert 45 Minuten – in einer mit Graffiti verschmierten Werksbahn. Es rüttelt, es ist laut. Auf den unbequemen, harten Bänken sitzen Arbeiter und Spezialisten des Kernkraftwerks Tschernobyl. Einige sitzen in kleinen Gruppen bei einander, scherzen, tippen auf ihren Handys herum, andere schlafen. Wer erst die Bahn um 11 Uhr 15 nimmt, hat vielleicht am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut. So zumindest will es der Volksmund, welcher die Fahrt zu jener Uhrzeit kurzerhand «Pjanaja» (die Betrunkene) taufte.

Geschäftige Normalität

An diesem Wochentag ist die Bahn gut mit Fahrgästen gefüllt. Viele schauen aus den verkratzen Fenstern. An ihnen zieht eine menschenleere Landschaft vorbei. Sümpfe, Felder, Pinien, Birkenwälder, einzelne verlassene Häuser sind entlang der Strecke zu sehen. Die Natur wird umso wilder, desto näher das Unglückskraftwerk kommt. Es ist der Arbeitsweg von 3500 Personen aus der nordukrainischen Stadt Slawutitsch, die 30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl weiterhin im stillgelegten Kernkraftwerk tätig sind. Ein Teil ist für dessen Wartung und Unterhalt zuständig, ein anderer für die Fertigstellung der neuen Schutzhülle, die 2017 über den maroden Sarkophag geschoben werden und für 100 Jahre den havarierten Reaktorblock 4 von der Umwelt abschirmen soll.

Nach zwanzig Kilometern Fahrt überquert die Bahn ruckelnd die unsichtbare Grenze der 30-Kilometer-Sperrzone, die rund um das Kraftwerk «Lein» gelegt worden war. Aus dem diesigen Licht taucht schliesslich das mit Baukränen umstellte AKW auf. Die Bahn verlangsamt ihre Fahrt und stoppt auf einem mit Wellblech überdachten Perron.

Die Türen gehen auf. Bevor man das mit Stacheldraht und mit schweren Gittern mehrfach gesicherte und von Videokameras überwachte Werksgelände betritt werden die Dokumente geprüft. Arbeiter hängen ihre Dosimeter um, zeigen ihre Ausweise, zünden eine Zigarette an, eilen zu einem wartenden Bus. Geschäftiger Alltag, an dem auf den ersten Blick nicht viel an die Katastrophe vor 30 Jahren erinnert.

Die Explosion des Reaktorblocks 4 nach einer misslungenen Simulation eines Störfalls in der Nacht auf den 26. April 1986 kontaminierte das Gebiet so stark, dass es vollständig evakuiert wurde. Davon waren in mehreren Umsiedlungsschritten insgesamt über 350’000 Personen betroffen. Dazu zählt etwa die 1970 für die AKW-Mitarbeiter gegründete Stadt Pripjat, an deren Stelle nach dem Unfall 1988 Slawutitsch trat, das heute 25 000 Einwohner zählt.

Sowjetische Vorzeigestadt

Das verlassene Pripjat hat sich zum gespenstischen Mahnmal der bisher grössten Katastrophe der zivilen Kernkraftnutzung entwickelt. Die Einfahrtsstrassen zur Stadt mit einst 49’000 Einwohnern unmittelbar vor der Katastrophe sind teils so stark zugewachsen, dass die Äste der Bäume den Blick versperren und das Dach des Fahrzeuges berühren. Im einstigen Zentrum vor dem Kulturpalast «Energetik» sprengt das Wurzelwerk von Bäumen den Asphalt. Daneben stehen im Supermarkt Einkaufswägelchen und Kühltruhen herum, Überschriften weisen zu den verschiedenen Lebensmittelabteilungen, Kabel hängen von der Decke, technische Apparaturen sind aufgebrochen, scheinen ausgeschlachtet worden zu sein. Nur wenige Meter davon entfernt liegen wohl zwei der bekanntesten Sujets der verlassenen Stadt: die mit Moos und Rost überzogene Autoscooter-Anlage und das Riesenrad.

Weiter führt der Weg in einen Wald, der sich bei genauerem Hinschauen als das von der Natur zurückeroberte ehemalige Sportstadion von Pripjat herausstellt. Andernorts brechen die Plattenbauten mit teils aufgepflanzten Sowjetemblemen auf den Dächern auseinander. In der Post ist noch ein farbenprächtiges Mosaik des russischen Kosmonauten Juri Gagarin zu erkennen, auf dem Boden liegen Tausende von zurückgelassenen Glückwunschkarten von der 1. Mai-Feier 1986. In einem Spital sind allerlei medizinische Apparaturen zu sehen, zurückgelassene Schutzhelme, Gasmasken und Bücher. In Schulen und Kindergärten stehen Stühle und Bänke, Spielzeug liegt herum. In Wohnhäusern sind Betten, Küchenutensilien und Gläser zurückgeblieben. Oberhalb einer idyllisch gelegenen Bootsanlegestelle in einem Wäldchen steht noch das Gerippe eines Cafés. Die bunten Scheiben mit kunstvollen Motiven sind teils noch intakt, teils zerstört. Neben dem Eingang stehen schrankgrosse Limonade-Automaten – heutzutage in vielen Metropolen eine trendige Rarität aus Sowjetzeiten.

Tausende von Touristen

Wohl nicht alles ist seit der Evakuierung der einstigen sowjetischen Musterstadt unverändert geblieben, sondern auch nachträglich arrangiert worden. Zutritt in die Sperrzone ist zwar nur mit vorgängiger Genehmigung durch die Zonenverwaltung möglich. Doch 2012 wurde das verstrahlte Gebiet für den Massentourismus geöffnet, nachdem bereits früher einige Agenturen, zunächst illegal, Expeditionen in das Gebiet angeboten hatten. 2015 registrierte die Zonenverwaltung über 16’000 Besucher aus aller Welt – die vorigen Jahre waren es mehr. Wegen dem Krieg in der Ostukraine kommen viel weniger Russen. Ab umgerechnet 100 Franken kann heute eine mehrstündige Tour in die Sperrzone gebucht werden, samt Dosimeter, Geigerzähler, genügend Zeit für Foto-Safaris, obligatem Füttern der Welse in einem kontaminierten Gewässer wenige Schritte vom Reaktorblock 4 entfernt sowie einem Blick auf die gigantische Schutzhülle. Und schliesslich folgt zum Schluss die Aushändigung eines Zertifikats mit Stempel inklusive der eingetragenen radioaktiven Strahlenbelastung während des Aufenthalts in der Zone über die «bestandene» Reise in die «Todeszone».

Stanislaw Schekstelo stört solcher Abenteuer-Tourismus mit Selfie-Stick nicht. Auch er arbeitet im AKW und wohnt in Slawutitsch. Er führt Gäste des Kraftwerks durch die Zone. Nüchtern, unaufgeregt, informativ. Es sei doch ganz verständlich, dass Leute durch eine solche Katastrophe wie vor 30 Jahren angelockt werden. Vor allem wenn etwas geschlossen, verboten sei, erzählt er. Schekstelo verweist zudem darauf, dass auch immer wieder Delegationen aus Japan kämen. Sie wollen wissen, wie die Ukraine mit der Katastrophe umgeht und ob es Erfahrungen gibt, die sie im Umgang mit dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima verwenden können. Das sei gut so, sagt er, grüsst den Wachmann an einem Schlagbaum, zeigt unsere Zugangspapiere und ermahnt uns lediglich, immer auf befestigten Wegen zu bleiben und nichts anzufassen.

Geduldete Rückkehrer

Auch ohne Touristen wäre die Sperrzone nicht verlassen. Nebst den Arbeiten beim Unglücksreaktor sind mehrere Tausend weitere Personen als Wachpersonal, Feuerwehrleute, Forst-Inspekteure und Wissenschafter im Gebiet tätig. Je nach Ort und Stärke der Verstrahlung dürfen sie sich auch heute noch nur eine bestimmte Anzahl Stunden pro Tag in der Zone aufhalten. Beim Betreten und Verlassen der vom ukrainischen und weissrussischen Militär abgeschirmten Zone müssen sie wie alle anderen Besucher in eine klobige Apparatur stehen, welche kontrolliert, ob die Strahlenbelastung nicht die Grenzwerte überschritten hat. Zudem gibt es mittlerweile auch zwischen 100 bis 200 sogenannte Rückkehrer, meist ältere Leute, die nicht länger ihrer Heimat fern bleiben wollten. Sie leben illegal in der Sperrzone, die Behörden dulden aber ihre Anwesenheit.

Die Reisen in die Sperrzone werden vom ukrainischen Katastrophenschutzministerium nicht nur geduldet, sondern auch aktiv gefördert. Kiew hat einen Massnahmenkatalog zur Verringerung der ökologischen Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt lanciert. Es existieren auch Initiativen, die auf eine erneute schrittweise Nutzbarmachung der Zone abzielen. Eine Wiederbesiedlung und eine landwirtschaftliche Nutzung ist zwar nicht unmittelbar geplant. Der illegale Holzschlag und der Verkauf des verstrahlten Rohstoffs wird offiziell verurteilt. Umweltschützer beklagen aber ein zu laxes Durchgreifen und eine Verharmlosung der Katastrophe und deren Folgen. Letzten Endes geht es aber auch um die Frage, welche Zukunft die Anwohner des Gebiets haben.

Denn trotz Gedenkveranstaltungen, wie am Dienstag zum 30. Jahrestag, verblasst langsam die Erinnerung an die Katastrophe. Direktbetroffene, Mitarbeiter des Kernkraftwerks, Liquidatoren, die 1986 von den Sowjets oft ohne Schutzausrüstung und unwissend über die Gefahr zu Zehntausenden in die Todeszone geschickt wurden, klagen, dass in den vergangenen Jahre die finanziellen Zusatzleistungen (medizinische Versorgung, reduzierte Wohnkosten oder Pensionszuschläge) immer stärker reduziert wurden. Eine besorgniserregende Entwicklung die noch von der Wirtschaftskrise akzentuiert wird und auch in Russland zu beobachten ist. Viele fühlen sich von der Politik, aber auch von der Gesellschaft vergessen, mit ihren teils gravierenden Gesundheitsproblemen alleine gelassen.

Natur als Schutzbarriere

Wie es nach 2017 weiter geht, wenn die neue Schutzhülle des internationalen Konsortiums Novarka über das AKW geschoben wurde und vermutlich bedeutend weniger Arbeiter in Tschernobyl benötigt werden, beschäftigt auch die Passagiere in der Werksbahn von Slawutitsch. Die Mehrheit der Arbeitnehmer der «Stadt der Liquidatoren» ist vom AKW direkt oder indirekt abhängig. Alexei Semjonow arbeitet seit mehren Jahren im Wartungsdienst des stillgelegten Kraftwerks. Er hofft, dass seine Arbeit auch nach 2017 benötigt wird. Sonst müsste er wohl die Stadt verlassen, erzählt er. Semjonow möchte jedoch bleiben. Die Stadt und die Arbeit gefallen ihm.

Die Verwaltung von Slawutitsch versucht zwar Investoren anzulocken, eine freie Wirtschaftszone zu beleben oder die Stadt als Forschungsstandort zur Bewältigung von Nuklear-Katastrophen und Beobachtung von deren Langzeitfolgen zu etablieren, bisher aber ohne Erfolg. In Slawutitsch hofft man zudem auf den Bau eines Zwischen- oder Endlagers für radioaktive Abfälle in der Umgebung. Zudem prüft Kiew, ein Biosphärenreservat einzurichten, um nicht nur Forschungsprojekte durchzuführen, sondern auch die Natur als natürliche Schutzbarriere um die Sperrzone bestmöglich zu erhalten. Trotz dem unsäglichen Leid und den ungezählten Toten, welche der Super-GAU verursachte, können sich die wenigsten vor Ort eine Zukunft ohne das AKW als Arbeitgeber vorstellen.

Forrás: http://nzz.ch/