Je stärker die Mieten steigen, desto weniger Menschen können sich den Umzug in eine neue Wohnung leisten. Junge Familien, Rentner und Angestellte leiden am stärksten darunter – mit sichtbaren Folgen.

Steigende Wohnungspreise sorgen bei Mietern nicht nur für knappe Kassen. Es gibt einen weiteren Nebeneffekt. Wer umziehen möchte, findet kaum noch eine neue bezahlbare Bleibe.

In den gefragten Großstädten sind deshalb viele Mieter dazu gezwungen, dort zu bleiben, wo sie sind – auch wenn sie wegen Familiennachwuchs oder einem Arbeitsplatzwechsel lieber umziehen würden. Ökonomen bezeichnen das als „Lock-in-Effekt”. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Effekts sind mittelfristig kaum abschätzbar.

Die erzwungene Sesshaftigkeit zeigt sich an den sinkenden Umzugszahlen. Im Jahr 2007 wechselten noch fast 13 Prozent aller Mieterhaushalte in Deutschland ihre Wohnung. Im vergangenen Jahr dagegen leisteten sich nur noch neun Prozent einen Umzug. Das geht aus Daten des Energiedienstleisters Techem hervor, der im Rahmen von Heizkostenabrechnungen regelmäßig über Mieterwechsel informiert wird.

Eine nähere Datenauswertung der „Welt” in einzelnen Städten zeigt außerdem: Dort, wo die Mieten besonders stark gestiegen sind, ging auch die Bereitschaft zum Umzug besonders deutlich zurück.

Berliner können sich die Mieten kaum noch leisten

So war es in Berlin vor rund zehn Jahren noch vollkommen üblich, die Wohnung so oft zu wechseln, wie man wollte. Jedes Wochenende rollten die Umzugslastwagen durch die Stadt. Die Umzugsquote lag 2007 bei 12,9 Prozent.

Seitdem jedoch stiegen die durchschnittlichen Angebotsmieten laut Immobilienscout24 um 47,4 Prozent – so stark wie in keiner anderen Stadt in Deutschland. Eine Folge: Die Umzugsquote ist mit sieben Prozent heute eine der niedrigsten in deutschen Städten.

Dabei sind die Berliner nicht aus freien Stücken sesshafter geworden. Die meisten Haushalte können sich schlicht den neuen Nettomieten-Durchschnitt von 8,10 Euro pro Quadratmeter nicht leisten.

In München fiel die Umzugsquote auf 7,7 Prozent, während im gleichen Zeitraum dieMieten ungebremst um mehr als 35 Prozent anstiegen. In Hamburg ziehen jedes Jahr nur noch 7,8 Prozent aller Haushalte um, die Mieten bei frei werdenden Wohnungen kletterten um 30 Prozent. Ähnlich sieht es in Frankfurt am Main und Stuttgart aus, wo verlässliche Angebotsdaten allerdings nur ins Jahr 2010 zurückreichen.

Studenten haben es leichter als Familien

Weiter unten in der Rangliste stiegen die Mietpreise nicht ganz so stark, wie etwa in Dortmund. Dort beträgt der Preisaufschlag „nur” rund 18 Prozent, und immer noch zehn Prozent der Haushalte können sich einen Umzug leisten.

In manchen Städten wie etwa Münster sind die Mieten zwar auch stark gestiegen, doch die Umzugsquote ist laut Techem mit 11,8 Prozent noch relativ hoch. Ein näherer Blick auf die Bevölkerungsstruktur hilft bei der Erklärung: In Münster ist der Anteil von Studentenhaushalten relativ hoch. Sie sind bei einem Umzug eher dazu bereit, sich „zu verkleinern”.

Kleine Wohnungen mit neuem Mietvertrag sind mittlerweile oft teurer als große mit Altvertrag

Reiner Braun
Wohnungsmarktexperte des Beratungsunternehmens Empirica

Zudem wirken sich höhere Mieten bei kleinen Wohnungen in der Gesamtsumme nicht so stark aus wie bei großen Wohnungen. Eine Familie, die eine bezahlbare 120-Quadratmeter-Wohnung sucht, steht vor einem ganz anderen Problem als Studierende, die ein 20-Quadratmeter-Zimmer für ein paar Semester benötigen.

In Bremen wiederum fiel die Umzugsquote ebenfalls relativ deutlich um fünf Prozentpunkte. Trotzdem können sich noch zehn Prozent der Bremer Haushalte einen Umzug leisten. Der Wohnungsmarkt scheint mit einem Mietpreiswachstum von 21 Prozent auf 6,83 Euro Nettokaltmiete je Quadratmeter und einer vergleichsweise hohen Leerstandsquote von drei Prozent noch intakt, das Angebot an Wohnungen insgesamt reicht offenbar aus, um den Bedarf zu decken.

Lock-in-Effekt wirkt in beide Richtungen

In den Großstädten mit hoher Zuwanderung dagegen beobachtet Reiner Braun, Wohnungsmarktexperte des Beratungsunternehmens Empirica, einen doppelt negativen Effekt: „Kleine Wohnungen mit neuem Mietvertrag sind mittlerweile oft teurer als große mit Altvertrag.” Ausgerechnet junge Familien mit Nachwuchs haben es also besonders schwer, eine neue Wohnung zu finden.

Der Lock-in-Effekt wirkt aber auch umgekehrt. Ältere Ehepaare, deren Kinder aus der Wohnung ziehen, tendieren eher dazu, in ihrer alten – eigentlich zu großen – Wohnung zu bleiben, weil sie in einer neuen, kleineren, den gleichen Preis zahlen müssten. „Überversorgten Haushalten wird der Umzug so erschwert”, sagt Braun.

Auch Arbeitnehmer werden in ihrer Mobilität eingeschränkt. Ausgerechnet in einer Zeit, in der maximale Flexibilität erwartet wird, ist es besonders schwer, am Ort einer neuen Arbeitsstätte auch eine Bleibe zu finden. Deshalb suchen selbst Unternehmen für neue Mitarbeiter immer häufiger möblierte Ein-Zimmer-Apartments für mehrere Monate oder Jahre.

Das etwa beobachtet der Berliner Immobiliendienstleister Berlinovo, der in fast 500 Objekten, die dem Land gehören, Wohnungen auf Zeit vermietet. „Die Auslastung liegt bei 95 Prozent”, meldet das Unternehmen. Die Mitarbeiter mit neuen Jobs nehmen lange Wege in Kauf, wenn die Familie an Ort und Stelle bleiben muss.

Weit mehr Auswirkungen als gedacht

„Am schwierigsten ist die Lage ganz klar für junge Familien und beruflich mobile Haushalte: Sie müssen in den sauren Apfel beißen und einen neuen Mietvertrag abschließen”, resümiert Braun. Gleiches gelte für ältere Mieter, die beispielsweise gerne vom Stadtrand zurück ins Zentrum ziehen würden.

Insgesamt haben extrem steigende Mieten und knapper Wohnungsmarkt also weit mehr Auswirkungen als nur die Belastung der Kasse von Mieterhaushalten. Unternehmen müssen Löhne anheben und Mitarbeiterwohnungen organisieren, längere Wege werden zurückgelegt und deshalb die Infrastruktur stärker belastet. Selbst Pflegekosten steigen, wenn ältere Menschen in großen und dezentralen Wohnungen leben.

Dabei würden viele Mieter gerne die Wohnung wechseln. Eine repräsentative Umfrage des Wohnungsportals Immowelt unter Internetnutzern zeigt: 26 Prozent der Mieter sind mit ihrer Wohnung unzufrieden und würden gerne umziehen. Ganze 22 Prozent wollen eine größere Wohnung, und immer noch 13 Prozent sind mit der Lage unzufrieden.

Die sinkenden Umzugsquoten in deutschen Großstädten zeigen: Nur knapp die Hälfte wird sich auf absehbare Zeit den Wunsch nach einer anderen Wohnung erfüllen können.

http://www.welt.de/finanzen/immobilien/article155156412/Millionen-Mieter-leiden-unter-Lock-in-Effekt.html