Niedersachsens Regierungschef Weil ruft seine SPD zum Handeln auf: Sie müsse klären, wofür sie steht. Allgemein verharre die Bundespolitik zu sehr im „Klein-Klein” – und gebe so der AfD Auftrieb.
Die Welt: Die SPD in Hannover, dessen Oberbürgermeister Sie lange Zeit waren, tut sich gerade ein bisschen schwer damit, den verstorbenen BundeskanzlerHelmut Schmidt angemessen zu ehren. Können Sie helfen?
Stephan Weil: Das war nach meiner Einschätzung nicht die hannoversche SPD, das waren vereinzelte Stimmen, leider mit großer öffentlicher Resonanz. Die überragende Mehrheit der hannoverschen Sozialdemokraten wäre nie im Leben darauf gekommen, hinter Helmut Schmidts Lebensleistung ein Fragezeichen zu setzen. Und inzwischen gibt es einen einstimmigen Antrag der SPD-Ratsfraktion für eine Ehrung. Aus meiner Sicht war das eine absurde und überflüssige Debatte.
Die Welt: Vielleicht auch eine symptomatische Debatte? Die SPD hadert notorisch mit ihrem Spitzenpersonal.
Weil: Dass die SPD sich derzeit nicht in allerbester Verfassung befindet, ist meines Erachtens nicht in erster Linie eine Frage des Führungspersonals, sondern Folge mangelnder Klarheit in der inhaltlichen Orientierung. Deshalb kann ich nur raten, dass wir genau das als Erstes angehen: schnell zu klären, für welche konkreten Vorhaben die SPD steht.
Wenn uns das gelingt und dieser Kurs auch von der Führungsmannschaft konsequent gehalten wird, werden sich die Sozialdemokraten auch wieder geschlossen hinter ihrer Parteispitze versammeln. Aus einer klaren Orientierung folgt eine klare Führung!
Die Welt: Welches könnten diese konkreten politischen Vorhaben sein?
Weil: Die erarbeiten wir gerade gemeinsam. Um einige Beispiele zu nennen: Wir haben unverändert einen Pflegenotstand in Deutschland. Das ist nicht nur ein Thema für die Pflegekräfte, die damit zu kämpfen haben. Das ist ein Thema für alle Familien, die dieses Problem auf sich zukommen sehen und merken, dass es dafür bisher oft keine guten Lösungen gibt. Ein enorm wichtiges Thema, für das die SPD Lösungen anbieten kann und wird.
Dasselbe gilt für gleichen Lohn für Mann und Frau. Es nutzt nichts, diesen Umstand nur zu beklagen, wir brauchen konkrete Maßnahmen, um diesen Missstand zu beseitigen. Und im Bildungsbereich brauchen wir eine große gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern, damit endlich alle Kinder in unserem Land eine gute Chance für ihr Leben bekommen.
Die Welt: Was braucht denn ein SPD-Parteichef derzeit am allerdringendsten?
Weil: Einen klaren Kompass und ein gutes Team um sich herum, das an demselben Strick in dieselbe Richtung zieht.
Die Welt: Sigmar Gabriel macht es den Mitgliedern auch nicht immer leicht. Neulich, beim Parteitag der niedersächsischen SPD, hat er einen jungen Genossen öffentlich zusammengefaltet, nur weil der es gewagt hatte, Kritik am Kurs der Parteiführung zu äußern.
Weil: Ja, das war vielleicht ein bisschen dicke. Aber genau genommen war auch diese Diskussion Ausdruck des Bedürfnisses nach einer klaren Orientierung innerhalb der SPD.
Die Welt: Wie lange kann eine Volkspartei Umfrageergebnisse um die 20 Prozent verkraften, ohne auch das Führungspersonal infrage zu stellen?
Weil: Die 20 Prozent sind ja kein Zeugnis für den SPD-Chef, sondern für die SPD insgesamt. Ich hielte es für einen großen Fehler, wenn wir diese Umfrageergebnisse allein der Parteiführung zuschrieben. Trainerwechsel garantieren keinen Erfolg, das kann ich als leidgeprüfter Anhänger von Hannover 96 gut beurteilen.
Die Welt: Gerade in diesem Fall hat sich ja gezeigt: Es gibt Trainerwechsel, die gehen komplett daneben. Und solche, die zu spät vorgenommen werden.
Weil: Tja, da sehen Sie mal.
Die Welt: Schulz oder Scholz?
Weil: Schulz und Scholz.
Die Welt: In welcher Rollenverteilung?
Weil: Der eine als Präsident des EU-Parlaments, der andere als Erster Bürgermeister einer tollen Stadt.
Die Welt: Für immer?
Weil: Das würde ich keinem von beiden wünschen.
Die Welt: Sigmar Gabriel hat vorgeschlagen, den Kanzlerkandidaten für 2017 in einer Urwahl zu nominieren. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Weil: Das macht überhaupt nur dann Sinn, wenn es mehrere Kandidaturen gibt. Und außerdem steht eine Entscheidung noch geraume Zeit nicht an. Ich finde, die SPD hat Dringlicheres zu klären.
Die Welt: Ist das Ihr Ernst?
Weil: Aber ja! Wir müssen erst einmal unser politisches Profil schärfen, das hat für mich eindeutig Vorrang.
Die Welt: Was muss ein Kanzlerkandidat können, das ein Ministerpräsident nicht kann?
Weil: Er muss alles können, was auch ein Ministerpräsident kann. Er braucht darüber hinaus bundespolitische Präsenz, bundespolitische Expertise, und er muss unsere Partei für einen engagierten Wahlkampf motivieren können. Das sind schon gesteigerte Anforderungen.
Die Welt: Worüber haben Sie sich zuletzt am meisten geärgert in der Bundespolitik?
Weil: Dass man in Berlin leider zu häufig der Versuchung erliegt, im Klein-Klein zu verharren, sich zu streiten und so der AfD, ungewollt, immer wieder neuen Auftrieb zu geben. Wir brauchen gerade im Moment eine Politik, die besonders konzentriert und besonders überzeugend auftritt.
Die Welt: Ein Beispiel?
Weil: Das Integrationsgesetz. Daran ärgert mich nicht das, was drinsteht, sondern das, was alles nicht drinsteht. Der bisherige Ansatz ist leider nicht der große Wurf, den wir bräuchten, um sehr schnell und zügig Hunderttausende Menschen zu qualifizieren und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Die Welt: Was fehlt Ihnen?
Weil: Wir brauchen ganz schnell Integrationsangebote für alle. Unabhängig von der individuellen Bleibeperspektive, die sich ja oft erst später endgültig entscheidet. Sprachförderung, Wertevermittlung, Feststellung der persönlichen Kompetenzen des Zuwanderers – das sind die Voraussetzungen für Integration. Ich würde mir wünschen, dass wir an dieser Stelle sehr bald ein klares und effizientes System etablieren.
Die Welt: Was sollte die große Koalition noch erledigen bis zur Bundestagswahl?
Weil: Da gibt es vieles: Das versprochene Bundesteilhabegesetz auf den Tisch legen, die Erbschaftsteuer neu regeln und auch die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Hier hat die Bundesregierung es bisher leider versäumt, einen gemeinsamen Vorschlag aller 16 Länder aufzugreifen.
Bei der Energiewende ist der Kompromiss, den wir gefunden haben, ein gangbarer Weg, aber jetzt muss insbesondere der Bund große Anstrengungen unternehmen, damit der Netzausbau rasch voranschreitet.
Die Welt: Es bedarf auch eines neuen Bundespräsidenten. Hätten Sie eine Idee?
Weil: Wenn ich eine hätte, würde ich sie sicher nicht an dieser Stelle herausposaunen. Es wird jetzt eine Findungsphase geben, in der ich mit großem Interesse auf die Haltung der Union blicke, die ja derzeit eher den Eindruck einer christlich-demokratischen beziehungsweise christlich-sozialen Zwietracht erweckt.
Die Welt: Die Frage, ob SPD, Grüne und Linke sich auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können, ist auch nicht gerade ohne Reiz.
Weil: Ich hätte kein Problem damit, wenn sich eine unabhängige Persönlichkeit fände, die allseits Wertschätzung genießt und auch über das linke Lager hinaus mehrheitsfähig wäre. Es sollte aber eben gerade nicht in erster Linie um eine Lagerkandidatur gehen.
Die Welt: Sondern?
Weil: Wir brauchen eine offene, unabhängige Persönlichkeit, die glaubhaft und überzeugend eigenständige Positionen formulieren kann und in der Lage ist, einer Gesellschaft Orientierung zu geben. Ich fände es auch gut, wenn wir zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes eine Frau zur Bundespräsidentin wählen würden, allerdings sollten Klugheit und Weitsicht und Besonnenheit und Überzeugungskraft unabhängig vom Geschlecht der erste Maßstab sein.
Die Welt: Hat ein Bündnis mit den Grünen und der Linken jenseits der Bundespräsidentenwahl Perspektive? Zum Beispiel als Alternative zu Schwarz-Grün nach der nächsten Bundestagswahl?
Weil: Ich würde meiner Partei dringend raten, sich auf diese Debatte derzeit nicht einzulassen. Wenn man wie die SPD bei 20 Prozent Zustimmung steht, empfiehlt es sich, erst einmal daran zu arbeiten, dass sich diese Zahl deutlich nach oben entwickelt. Erst wenn das geschafft ist, besteht eine reale Machtperspektive.
Die Welt: Welche Krise erscheint Ihnen eigentlich bedrohlicher: Die Ihrer Partei oder die des VW-Konzerns?
Weil: Gemeinsam ist den beiden jedenfalls, dass es jede Menge Hausarbeiten zu erledigen gibt. Wenn die geschafft sind, haben sowohl die SPD als auch VW beste Zukunftsperspektiven.
Die Welt: Sie selbst haben als Aufsichtsratsmitglied bei VW auf personelle Kontinuität gesetzt trotz der unglaublichen Fehlleistung des Konzerns. Sind Sie mit dieser Entscheidung noch zufrieden?
Weil: Ja. Zum einen war es Aufgabe des Aufsichtsrats, auch in der Krise die Handlungsfähigkeit des Unternehmens zu gewährleisten. Das ist gelungen. Zum anderen haben wir im Vorstandsbereich ja nicht allein auf Kontinuität gesetzt, sondern ein erhebliches Revirement vollzogen.
Die Welt: An der Spitze stehen mit Vorstandschef Matthias Müller und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch zwei Manager, die auch schon dem alten VW-Vorstand angehört haben.
Weil: Matthias Müller war Markenchef bei Porsche. Sein Wechsel nach Wolfsburg war zwar ein Wechsel innerhalb des Konzerns, aber etwas aus der Halbdistanz. Bei Hans Dieter Pötsch hat sich in den vergangenen Monaten immer wieder gezeigt, dass es richtig war, ihn an die Spitze des Aufsichtsrats zu wählen. Er verfügt nicht nur über einen hervorragenden Überblick, sondern auch über eine bemerkenswerte Integrationskraft innerhalb des Konzerns.
Die Welt: Der Vorstand des Unternehmens hat in den vergangenen Jahren seine Gehalts- und Bonuszahlungen auf der Grundlage von Umsatz- und Gewinnzahlen erhalten, die auf unredliche Art und Weise zustande gekommen sind. Werden Sie da noch rechtlich dagegen vorgehen?
Weil: Dieselgate und die Folgen werden aktuell vom Unternehmen selbst, von den Behörden einschließlich der Justiz in den USA, Deutschland und anderen weltweit betroffenen Ländern intensiv bearbeitet und hoffentlich restlos aufgeklärt werden. Das ist gut und unabdingbar. Und ich erwarte, dass man aus den Ergebnissen die richtigen Schlüsse zieht. So etwas darf sich nie wiederholen.
Die Welt: Aktionärsvertreter, auch der Großaktionär Katar, haben unter anderem gerügt, dass der staatliche und gewerkschaftliche Einfluss auf VW viel zu groß ist, um künftig erfolgreich zu agieren. Haben die nicht recht?
Weil: Gegenfrage: Was haben Daimler, ThyssenKrupp, Siemens, die Deutsche Bank, Bilfinger Berger gemeinsam?
Die Welt: Worauf wollen Sie hinaus?
Weil: Die Antwortet lautet: Das Land Niedersachsen hat an diesen Unternehmen zu meinem Bedauern keine Anteile. Aber sie hatten oder haben trotzdem sehr große Probleme. Im Übrigen hat Volkswagen, so, wie es jetzt strukturiert ist, eine ganz bemerkenswerte Erfolgsgeschichte.
VW ist das größte Automobilunternehmen der Welt geworden – auch unter der Beteiligung des Landes Niedersachsen. Diese zahlreichen Erfahrungen sprechen dafür, dass Niedersachsen als stabiler Aktionär, der langfristige und nachhaltige Interessen verfolgt, dem Unternehmen guttut. Wir sind Teil der Lösung, nicht Teil des Problems.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article156132600/Mich-aergert-was-alles-nicht-im-Integrationsgesetz-steht.html