Nicolas Sarkozy strebt nochmals nach Frankreichs Präsidentschaft. Europa sei aktuell zu schwach. Er fordert härtere Gesetze gegen Islamisten, Bodentruppen in Syrien – und eine neue Flüchtlingspolitik.

Nicolas Sarkozy empfängt im zehnten Stock des Sitzes seiner Partei Les Républicains im Süden von Paris. Auf dem Weg dorthin muss die Großdemo gegen die Reform des Sozialgesetzes durchquert werden, die den Boulevard de Montparnasse in ein Schlachtfeld verwandelt: Steine und Metallstangen werden auf Polizisten geworfen, Wasserwerfer kommen zum Einsatz, ein Kinderkrankenhaus muss von Sondereinsatzkräften geschützt werden. Es fühlt sich an wie Bürgerkrieg. Im selben Krankenhaus wird gerade der kleine Junge behandelt, dessen Eltern am Vorabend bestialisch vor seinen Augen von einem Terroristen ermordet wurden.

Frankreich ist in einer Krise. Sie ist sozial, sie ist wirtschaftlich, und sie ist auch politisch. Kein Hoffnungsträger ist in Sicht für die Wahlen im Mai 2017, der das Profil hat, diese Probleme zu lösen. Bei den Republikanern treten im November zwölf Kandidaten zu den Vorwahlen an, darunter nun auch Sarkozys früherer Redenschreiber und Alter Ego Henri Guaino. Sarkozy selbst hat sich noch nicht als Kandidat erklärt. Aber er lässt keinen Zweifel, dass er nur einen Kandidaten kennt, der Frankreich und Europa retten kann: sich selbst.

Die Welt: Frankreich ist in einer sozialen und politischen Krise. Durch die Fußball-Europameisterschaft sind alle Augen auf das Land gerichtet. Wie empfinden Sie das Bild, das Frankreich zurzeit vermittelt?

Nicolas Sarkozy: Wir befinden uns im Ausnahmezustand und haben Demonstrationen, die immer gewalttätiger und explosiver werden. Wer soll das verstehen? Wer soll verstehen, dass wir Polizeibeamte einsetzen in Fanmeilen, die halb leer bleiben? Unsere Polizeikräfte könnten wir im Augenblick besser einsetzen. Die Gewerkschaft CGT vermittelt ein verheerendes Bild von Frankreich. Das Mindeste, was man von den Gewerkschaften hätte erwarten können, ist, dass sie die Streiks während der Überschwemmungen stoppen. Priorität ist jetzt, die Autorität im Land wiederherzustellen.

Die Welt: Was haben die Attentate in Orlandound Magnanville bei Ihnen ausgelöst?

Sarkozy: Beide Ereignisse zeigen, dass wir uns im Krieg befinden. Es ist ein äußerer Krieg, den wir gegen den Islamischen Staat (IS) und al-Qaida führen, aber auch ein innerer Krieg gegen unsere Landsleute, die Anhänger des radikalen Islam sind. Wenn man den Feind besiegen will, muss man ihn benennen: Unsere Feinde sind derDschihadismus und der radikale Islam, die sich gegenseitig befruchten. Wir können nicht akzeptieren, wie der radikale Islam die Frauen behandelt, wie er Homosexuelle verfolgt. All das ist eine Schande.

Die Welt: Was heißt das ganz konkret, Krieg zu führen?

Sarkozy: Die Bedrohung hat nicht mehr denselben Charakter, nicht mehr dieselbe Dimension und auch nicht mehr dieselbe Bedeutung. In den vergangenen zwei Jahren sind die letzten Tabus gefallen: In Frankreich ist ein Firmenchef geköpft, eine Zeitungsredaktion vernichtet, Besucher von Konzerten und Caféterrassen sind mit Maschinengewehren niedergemetzelt worden. Nun wurde ein Polizist bei sich zu Hause ermordet. Aber wir, die westlichen Demokratien, haben immer noch nicht das Ausmaß dieser neuen Bedrohung begriffen.

Die Welt: Was schlagen Sie vor?

Sarkozy: Vier Maßnahmen, die man sofort umsetzen könnte: Erstens, alle Islamisten müssen in Isolationshaft. Zweitens müssen wir in den Gefängnissen einen Geheimdienst aufbauen. Nicht nur die Zellen müssen abgehört werden, es muss auch eingeschleuste Agenten geben, genauso wie in den radikalen Moscheen und Gruppen. Drittens: Jeder Ausländer und jeder Franzose, der die doppelte Staatsbürgerschaft hat und mit einer terroristischen Vereinigung in Verbindung steht, muss sofort ausgewiesen werden. Wozu haben wir denn den Ausnahmezustand? Wir haben nicht die Mittel, sämtliche 11.500 Personen, die als gefährlich registriert sind, rund um die Uhr zu überwachen. Denn alle, die in den vergangenen Jahren zur Tat geschritten sind, waren den Geheimdiensten ausnahmslos bekannt. Ich verlange deshalb, dass das Prinzip der Vorsorge, das ich bei Sexualdelikten durchgesetzt habe, genauso für die Sicherheit gilt.

Die Welt: Und was wollen Sie mit denen machen, die Sie nicht ausweisen können, die Franzosen sind?

Sarkozy: Ich verlange, dass sie unter Hausarrest gestellt werden und eine elektronische Fußfessel bekommen, damit man weiß, wo sie sich aufhalten.

Die Welt: Fehlt noch der letzte, der vierte Punkt …

Sarkozy: Für solche, die wegen Terrorismus verurteilt worden sind, fordere ich seit eineinhalb Jahren die Einrichtung von Deradikalisierungszentren. Das Gefängnis ist die Strafe für die Horrortaten, die sie begangen haben. Aber man darf sie danach nicht in die freie Natur lassen, ohne dass sie den Beweis dafür erbracht haben, keine Bedrohung mehr zu sein.

Die Welt: Gilt das auch für diejenigen, die aus Syrien zurückkehren?

Sarkozy: Wir wollen keine Dschihadisten, die zurückkehren, ganz gleich, ob sie Ausländer sind oder die doppelte Staatsbürgerschaft haben. Ist es ein Franzose, der zurückkehrt, dann muss er für seine Verbrechen ins Gefängnis. Danach muss er deradikalisiert werden, bevor er wieder rausdarf.

Die Welt: Welche Lösung sehen Sie fürSyrien?

Sarkozy: Alle, die mir vorgeworfen haben, in Libyen interveniert zu haben, sehen am Beispiel Syrien, was passiert wäre, wenn wir es nicht getan hätten. Mit dem IS, al-Qaida, Baschar al-Assad an der Macht und einer geschwächten Opposition ist uns in Syrien der Grand Slam gelungen! Man kann endlos darüber streiten, ob man im Irak, in Kuwait oder in Afghanistan intervenieren darf. Aber nicht über Syrien. Syrien ist in unmittelbarer Nachbarschaft, es gehört zum Mittelmeergebiet.

Die Welt: Sind Bodentruppen nötig?

Sarkozy: Natürlich. Es braucht am Ende immer Bodentruppen, die abschließen, was die Luftstreitkräfte erreicht haben. Es können aber in keinem Fall europäische Truppen sein. Wir dürfen nicht eine Wiederauflage eines Kriegs von Orient gegen Okzident riskieren. Es braucht arabische Bodentruppen, aber vor allem und zuallererst politische Initiativen.

Die Welt: Solange in Syrien Krieg ist, wird die Flüchtlingskrise anhalten …

Sarkozy: Was die Einwanderungspolitik betrifft, müssen wir vor allem eine Sache regeln: Die Hotspots müssen an den Südküsten des Mittelmeers aufgebaut werden, damit die Asylanträge bearbeitet werden können, bevor die Menschen das Mittelmeer überqueren. Sie sollten von Europa finanziert, aber in den Ländern eingerichtet werden, die den Druck der Einwanderung abfangen müssen, also in Libyen, Tunesien, Marokko und in der Türkei.

Die Welt: Ist es falsch, in Italien und Griechenland weitere Hotspots einzurichten?

Sarkozy: Diese beiden Länder sind in einer extrem schwierigen Lage. Aber es entbehrt jeder Logik, dass die Flüchtlinge das Meer überqueren und ihr Leben riskieren müssen, um dann möglicherweise aus Italien oder Griechenland wieder abgeschoben zu werden.

Die Welt: Die Flüchtlingskrise hat Europa in eine politische Krise gestürzt. Was tun?

Sarkozy: Das Problem Europas und das Problem der Welt ist das komplette Fehlen von Führung. In Syrien, in der Ukraine, während der Finanzkrise, wer hat da nach Lösungen gesucht? Schengen liegt seit zwei Jahren am Boden, und es gibt keinen ernst zu nehmenden Vorschlag. Der einzige Vorschlag, die Quotenlösung, ist zum Heulen. Als könnte man das Problem von 1,3 Milliarden Afrikanern und Millionen von Syrern mit Quoten lösen. Wie auch immer die Entscheidung der Briten in Sachen Brexit ausgeht: Wir brauchen einen neuen europäischen Vertrag.

Die Welt: Wie müsste der aussehen?

Sarkozy: Es müsste ein Schengen II geben, das ich seit Jahren fordere. Im Zentrum müsste ein Euro-Schengen stehen, das sich aus den Innenministern zusammensetzt mit einem stabilen Präsidenten, der für Frontex verantwortlich wäre. Es liegt doch auf der Hand, dass nicht einer der 28 Kommissare die Einwanderungspolitik Europas regeln kann.

Die Welt: Nach dem Vorbild der Euro-Gruppe der Finanzminister?

Sarkozy: Ganz genau. Nebenbei gesagt: Als ich das vorgeschlagen habe, wollte es niemand. Inzwischen sind alle davon überzeugt. Es braucht eben eine Vision, es braucht Leadership, wenn man vorankommen will.

Die Welt: Lange Zeit hat das deutsch-französische Tandem die Rolle dieses Motors gespielt. Ist die deutsch-französische Freundschaft am Ende?

Sarkozy: Ich habe eine starke Bindung ans Mittelmeer. Aber ich weiß eines: Das deutsch-französische Paar ist für Europa unabdingbar. Wir dürfen uns in Frankreich nicht zum Streit mit Deutschland hinreißen lassen, nicht zu alten Erbfeindschaften, die von Ludwig XIV. bis 1945 alle 30 Jahre einen Krieg zwischen unseren Nationen ausgelöst haben. Weise Staatsmänner haben für Versöhnung gesorgt. Es ist schon verrückt: Wenn es ein deutsch-französisches Tandem gibt, ärgern sich alle anderen. Wenn es keines gibt, geraten sie in Panik.

Die Welt: Woran liegt’s, dass wir uns entfernt haben?

Sarkozy: Niemals hätte ich akzeptiert, dassAngela Merkel allein mit Recep Tayyip Erdogan verhandelt. Das war ein schreckliches Symbol für Europa.

Die Welt: Das war nicht Merkels Schuld …

Sarkozy: Dass Frankreich an diesen Verhandlungen nicht teilgenommen hat, liegt ganz allein an François Hollande. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Deutschland macht, aber niemals werden Sie erleben, dass ich Deutschland öffentlich kritisiere. Denn gerade wenn es Streitigkeiten gibt, muss man sich annähern, miteinander sprechen, Kompromisse finden und gemeinsam führen.

Die Welt: Was würde in dieser Situation ein Brexit bedeuten?

Sarkozy: Einen doppelten Schiffbruch. Europa würde die zweitgrößte Wirtschaftsmacht verlieren. Das ist ein Problem. Für unsere britischen Freunde wäre es eine Katastrophe. Umso mehr, als dann sehr schnell die Zentrifugalkräfte in Aktion treten würden. Denn sehr schnell würde die Frage nach der Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien auf den Tisch kommen.

Die Welt: Sie rechnen mit dem Auseinanderfallen Großbritanniens?

Sarkozy: Diese Kräfte wirken überall in Europa, nicht nur in Großbritannien.

Die Welt: Was ist die richtige Antwort darauf?

Sarkozy: Der drohende Brexit hätte eine Gelegenheit sein müssen, Veränderungen in Europa voranzutreiben. Einige der britischen Forderungen sind vollkommen gerechtfertigt. Der neue europäische Vertrag, den ich vorschlage, würde Raum für zwei Europas lassen. Ein Europa des Euro und ein Europa der 28. Das erste, so wie ich es mir vorstelle, müsste einen Finanzchef haben, müsste einen europäischen Währungsfonds gründen und eine Regierung bilden, die mehr Integration, mehr Solidarität und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gewährleisten würde.

Die Welt: Hat die Türkei einen Platz in diesem Europa?

Sarkozy: Nein. Ich sage ganz klar: Die Türkei ist nicht dazu berufen, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Die Türkei steht ja nicht einmal auf der Liste der sicheren Länder beim Kampf gegen illegale Einwanderung, und wir reden über die Möglichkeit, dass 80 Millionen Türken ein Visum bekommen. Das ist der reine Wahnsinn!

Die Welt: Treibende Kräfte in Europa kommen derzeit aus der rechtspopulistischen oder linksextremen Ecke, AfD in Deutschland, Podemos in Spanien

Sarkozy: Europa fehlt es an neuen Ideen. Es braucht Visionen. Man muss sich wieder für Europa begeistern und für Europa auch was riskieren. Wir wollten dieses Europa, damit unsere Kultur überlebt.

Die Welt: Sind Sie derjenige, der Frankreich und Europa retten wird?

Sarkozy: Sie stellen die Frage in einer Weise, dass es lächerlich wäre, mit Ja zu antworten. Wenn ich Nein sagen würde, klänge das heuchlerisch.

Die Welt: Haben Sie den Ehrgeiz?

Sarkozy: Ehrgeiz, das war vorher. Inzwischen ist es Leidenschaft. In naher Zukunft geht es darum, die politische Autorität in Frankreich und Europa wiederherzustellen. Es wird kein harmonisches Zusammenleben geben ohne eine Autorität, die dafür sorgt, dass die Regeln dieses Zusammenlebens respektiert werden.

Dieser Text stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA). Ihr gehören neben der „Welt“ die italienische Zeitung „La Repubblica“, „El País“ aus Spanien, „Le Soir“ aus Belgien, „Le Figaro“ aus Frankreich sowie aus der Schweiz „La Tribune de Genève“ und „Der Tagesanzeiger“ an.

http://www.welt.de/politik/ausland/article156259888/Merkel-haette-nie-allein-mit-Erdogan-verhandeln-duerfen.html