Viele der in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen sind Afghanen, die als Wirtschaftsmigranten gelten. Doch die sehen das ganz anders – und riskieren für die Weiterreise nach Nordeuropa ihr Leben.

Wenn nichts mehr geht, wird Masood spielen müssen: das Taxispiel, das Zugspiel oder das Bootspiel. Je nachdem, wie viel Geld er zahlen kann – und ob er bereit ist, sein Leben zu riskieren. Masood ist 16 Jahre alt, Afghane und seit fünf Tagen am alten Flughafengelände Hellenikon in Athen untergekommen. Der Jugendliche stand am vergangenen Wochenende bereits vor der mazedonischen Grenze – doch er war zu spät gekommen. Statt in einem Bus in Richtung Serbien zu sitzen, musste er am nächsten Tag wieder zurück in die griechische Hauptstadt fahren.

Nun wartet Masood auf Montag, auf die Ergebnisse des EU-Gipfels mit der Türkei in Brüssel. „Wenn die Grenzen für uns Afghanen nicht wieder geöffnet werden, müssen wir illegal weiterkommen”, erklärt er in tadellosem Englisch. Dann muss er ein Spiel spielen, so nennen die Schmuggler ihre Angebote, erzählt Masood. Er und sein Freund Suhrab werden sich für eines entscheiden müssen.

Am günstigsten sei es, dass sie mit dem Taxi irgendwo an die Grenze gefahren würden, von wo aus sie zu Fuß nach Mazedonien laufen könnten, sagt Masood. Teurer seien Zugtickets ins Nachbarland – wie sie dabei die Passkontrollen umgehen können, wisse er nicht. Das Bootspiel will Masood aber auf keinen Fall riskieren. Das hieße, an die Küste Albaniens gebracht zu werden, und von dort in Booten nach Italien überzusetzen. „Das ist lebensgefährlich”, sagt Masood. Eine Fahrt im Schlauchboot auf offener See hat dem jungen Mann erkennbar gereicht.

Wirtschaftsflüchtlinge – seit Jahrzehnten verfolgt

Jeder Vierte der mittlerweile mehr als 33.000 Flüchtlinge, die in Griechenland festsitzen, ist nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR Afghane. Die Afghanen sind momentan die großen Verlierer der verschärften Flüchtlingskrise, seit Österreich und die Balkanstaaten ihre Grenzen geschlossen haben. Denn im Gegensatz zu den Syrern und Irakern gelten sie als Wirtschafts- und nicht etwa als Kriegsflüchtlinge. Ob sie in absehbarer Zeit je weiter nach Nordeuropa dürfen, ist mehr als ungewiss.

Von den fast 4000 Flüchtlingen, die in Hellenikon ein Dach über dem Kopf gefunden haben, kommen die meisten aus Afghanistan. Vielen sieht man an, dass sie Hasara sind, also der schiitischen Minderheit angehören, die am Hindukusch seit Jahrzehnten verfolgt wird.

Ihre asiatischen Gesichtszüge erinnern ein wenig an Inuit, die Frauen tragen ihre Kopftücher sehr locker und häufig weit hinter dem Haaransatz. Gleichzeitig sind sie oft wesentlich ärmer und weniger gebildet als etwa die Syrer. Masood mit seinen exzellenten Sprachkenntnissen ist in Hellenikon eine echte Ausnahme.

Dass sie von Europa anders behandelt werden als die Syrer, wollen die Afghanen nicht einsehen. „Im Syrien-Krieg gibt es klare Fronten: Hier ist die Assad-Regierung, da der Islamische Staat”, meint Faiq. „In Afghanistan gibt es so etwas nicht. Die Taliban warten hinter jeder Ecke – und uns Hasara beschützt niemand.” Faiq ist mit seiner Frau und den beiden Kindern aus der Provinz Ghazni geflohen und behauptet – wie praktisch jeder, der ein paar Brocken Englisch spricht –, für die Nato-Soldaten gearbeitet zu haben. Wenn alle die Wahrheit sprächen, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” kürzlich treffend, müsste jeder westliche Soldat eine eigene Truppe von Übersetzern gehabt haben.

Afghanen sind auf den Überlebenskampf getrimmt

Faiq steht auf dem Parkplatz vor dem alten Flughafenterminal und raucht eine selbst gedrehte Zigarette. Immer wieder kommen Autos an, in denen Athener Lebensmittel in Supermarkttüten oder Kleidung vorbeibringen. Die Umgangsformen, wenn die Kofferräume geöffnet werden, sind rüde. Es scheint, als habe ihre Heimat, die sich seit den Anschlägen auf das World Trade Center vor fast 15 Jahren quasi im Dauerkriegszustand befindet, die Menschen auf Überlebenskampf getrimmt. „Ich wäre nicht hierhergekommen, wenn es nicht in Afghanistan zu gefährlich gewesen wäre”, bekräftigt Faiq, „ich will nur an einem Ort leben, an dem meine Kinder in Frieden zur Schule gehen können.” Und dann sagt er einen Satz, den man in Hellenikon immer wieder hört: „Ich komme nicht aus wirtschaftlichen Gründen.”

Eva, eine junge Griechin, hat gerade einige Klamotten vorbeigebracht. Sie berät im Auftrag des UNHCR die griechischen Behörden in Asylfragen. „Die Afghanen, erklärt sie, gelten nicht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention.” Dennoch würden sie als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt und dürften in Griechenland bleiben. „Das Problem ist: Kaum jemand beantragt das, weil sie dann in Griechenland bleiben müssten und nicht weiterreisen dürften.” Faiq sagt, wo er am Ende lande, sei ihm eigentlich egal – unter einer Bedingung: „Meine Familie muss nicht so leben wie hier in Hellenikon.”

Wie in allen Flüchtlingslagern ist Journalisten auch in Hellenikon der Zutritt in diesen Tagen verwehrt. „Viele Medien berichten falsch”, begründet die Camp-Koordinatorin Chara Stagon die Entscheidung der Regierung. Und wie zum Beweis klingelt kurz darauf ihr Handy, und eine Helferin fragt, ob es trotz der Proteste sicher wäre, nach Hellenikon zu kommen. Sie habe im Radio davon gehört. „Welche Proteste? Es gibt doch gar keine”, sagt Stagon, und schüttelt ungläubig den Kopf.

Pausenlos bringen die Helfer Essen und Medikamente

In den ersten Tagen, nachdem Mazedonien die Grenze geschlossen habe, sei die Situation in den neu entstehenden Lagern in der Tat sehr chaotisch gewesen, sagt Stagon, „aber mittlerweile haben wir die Lage gut im Griff. Man muss bedenken: Hellenikon gibt es seit sechs Tagen, nicht seit sechs Jahren.”

Die energische Frau sitzt in der großen Halle im Erdgeschoss des alten Terminals, während vor dem Tor pausenlos Autos und Kleintransporter vorfahren, und Helfer Lebensmittel, Medikamente und Kleidung ausladen. „Die Menschen sind unglaublich hilfsbereit – die Griechen und die Flüchtlinge”, sagt Stagon. „Wenn Europa sich weiter querstellt, werden wir den Menschen eben auch unsere Häuser öffnen. Dann müssen die anderen Länder sich fragen, was sie eigentlich tun.”

Und wie gehen die Afghanen mit ihrer Situation um? „Am Anfang war es grauenhaft für sie. Die meisten hatten schon Bustickets in den Norden gekauft und waren wütend, dass sie nicht losdurften”, erinnert sich Stagon. „Aber ich glaube, langsam verstehen sie, dass ihre Lage schwierig ist. Besonders weil wir die Syrer, die hier sind, in andere Lager in Richtung der mazedonischen Grenze umquartieren.”

„Ich will etwas aus meinem Leben machen”

Masood, der junge Mann mit dem fließenden Englisch, hat sich mit seinem Freund derweil auf den Weg in die Stadt gemacht. Ein kurzer Fußmarsch entlang der Promenade führt zur nächsten Tramstation. Unten am Strand picknicken ein paar Flüchtlingsfamilien, ein paar Männer waschen sich mit etwas Seife im salzigen Wasser.

„Manche Nächte liege ich wach und weine um das gute Leben, das wir hatten, bevor die Taliban kamen”, sagt Masood, der seine Eltern und fünf Geschwister in Baghlan zurückgelassen hat, einer Provinz, in der bis zum Abzug vor gut einem Jahr die Bundeswehr stationiert war. „Ich will auch kein Geld”, sagt Masood, „ich will studieren, etwas aus meinem Leben machen.” Am liebsten in Schweden, wo ein Onkel lebt.

Die Tram kommt, Masood und Suhrab steigen ein. Sie wollen zum Viktoriaplatz, jenem mittlerweile berüchtigten Umschlagplatz von Flüchtlingen, Schmugglern und Passfälschern in der Athener Innenstadt. „Die Zeit totschlagen”, sagt Masood. Und sich womöglich auf die Suche nach dem besten Spiel machen.

http://www.welt.de/politik/ausland/article152974200/Manchmal-weine-ich-um-das-gute-Leben-das-wir-hatten.html