Wladimir Klitschko trug die Spuren der Niederlage im Gesicht, als er den Ring verließ. Über seinem linken Auge klaffte ein langer, blutiger Riss, sein Gesicht war geschwollen, die Miene schmerzgeplagt. Er war von dem 17 Jahre jüngeren Anthony Joshua in spektakulärer Manier bezwungen worden, aber er hatte Großes geleistet.
Klitschko strafte all jene Experten Lügen, die ihn bereits abgeschrieben hatten. Zu alt sei er, zu satt und überhaupt sei seine boxerische Klasse über die Jahre immer mehr verflacht. Am schwersten wog vielleicht der Vorwurf, Klitschko habe die richtig großen Kämpfe stets gemieden. All das hat er in dieser magischen Nacht von Wembley eindrucksvoll widerlegt.
Er wählte für sein Comeback mit Anthony Joshua den gefährlichsten Gegner, der auf dem Markt war. Er ließ sich auf ein Auswärtsspiel vor gewaltiger Kulisse ein. Und er unterzog sich mit eisenharter Disziplin einer regelrechten Verjüngungskur. So austrainiert, so schnell und so aggressiv wie in London hat man ihn ewig nicht gesehen. Deshalb geriet das Duell der beiden Schwergewichtler zu einem Thriller, der schon bald als Klassiker in die Geschichtsbücher des Boxens Eingang finden wird. Klitschko hatte daran wesentlichen Anteil.
Wie es um seine sportliche Zukunft bestellt sein wird, ließ er offen. Eine Klausel im Vertrag zwischen ihm und Joshua gibt ihm die Option auf einen Rückkampf, er müsste sie nur ziehen. Doch das wäre unklug. Denn zum einen war Joshua einfach zu stark. Der Engländer hat eindrucksvoll demonstriert, dass er jedem Druck gewachsen ist, und es ist nach diesem Kampf kaum vorstellbar, dass ihm auf absehbare Zeit jemand gefährlich werden kann.
Klitschko war sich zu sicher
Zum anderen verließen Klitschko die Instinkte. Statt Joshua nach dessen Niederschlag in der sechsten Runde endgültig zu Boden zu schicken, tat Klitschko erst mal nichts und ließ den schwer wankenden Gegner Luft holen. „Ich fühlte, dass er nachlässt, dass er unkonzentriert war“, sagte Klitschko nach dem Kampf. „Ich war mir aber so sicher, dass das hier mein Abend war, dass ich mir noch etwas Zeit genommen habe.“ Eine fatale Fehleinschätzung. Die Zerknirschung darüber war ihm anzumerken. „Ich hätte nach dem Niederschlag mehr machen können. Das ist bitter.“
Ob es nun Überheblichkeit war oder ob Klitschko sich von den Psychospielchen ablenken ließ, die Joshua in jener Phase anbrachte, ein solcher Fehler darf einem Boxer seiner Klasse nicht passieren. Und das macht ihn auch für jeden kommenden Gegner verwundbar. Nach der zweiten Niederlage in Folge (die fünfte seiner Profilaufbahn) hat der Ukrainer seinen Schrecken verloren.
Klitschko sollte daher auf den Rückkampf verzichten, vielleicht sogar auf alle weiteren Kämpfe. Er hat längst für die Karriere nach dem aktiven Boxsport vorgesorgt, genug Geld hat er sowieso, und eine junge Familie auch. Er könnte mit dem Gefühl abtreten, dass er es allen noch mal bewiesen hat – nicht mit der Brechstange, sondern wie ein Gentleman. Vor allem aber würde er mit einem unvergesslichen Kampf in Erinnerung bleiben. Selbst wenn der mit einer Niederlage endete: In Klitschkos Fall war es ein gefühlter Höhepunkt.
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