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In der türkischen Zwickmühle

Die EU spielt bei der Reisefreiheit für Türken auf Zeit und sucht nach einer Notbremse.

In der türkischen Zwickmühle
Das Flüchtlingskind in einem Lager bei Athen weiss nichts von den Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara.
(Bild: Lefteris Pitarakis / AP)

Der Türkei-Deal hat der EU in der Flüchtlingskrise eine Verschnaufpause verschafft. Die Vereinbarung sieht vor, dass Migranten und Flüchtlinge konsequent von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschafft werden. Die verschärften Kontrollen der türkischen Küstenwache und das Inkrafttreten der Vereinbarung am 20. März haben zu einer starken Reduktion der Flüchtlingszahlen geführt: Kamen Anfang März täglich noch mehrere tausend Flüchtlinge in Griechenland an, belief sich die Zahl der Ankömmlinge Ende April noch auf gut hundert pro Tag.

Nicht alle Bedingungen erfüllt

Von Beginn weg war klar, dass die Kooperation einen Preis haben würde. Die für Ankara wichtigste Gegenforderung ist zugleich die für die Europäer heikelste: die Reisefreiheit für türkische Bürger in den Schengenraum bis Ende Juni – also viel rascher als ursprünglich geplant. Die Aufhebung der Visumspflicht gälte auch für Reisen von bis zu drei Monaten in die Schweiz, die als assoziierter Schengenstaat die EU-Visumspolitik nachvollzieht, ohne direkt mitbestimmen zu können.

Nun erfolgt in der EU die Aufhebung der Visumspflicht für einen Drittstaat nicht nur nach politischem Gutdünken. Während die EU von nichteuropäischen Staaten wie den USA oder Australien Gegenrecht (also Visafreiheit für alle EU-Bürger) verlangt, gehen die Forderungen an Nachbarstaaten oft weiter – aus Furcht vor einem Migrationsdruck Richtung Europa. Die Nachbarländer müssen sich über Rückübernahmeabkommen verpflichten, ihre Bürger, die irregulär in der EU bleiben, zurückzunehmen. Weiter haben sie Kriterien zur Sicherheit von Reisedokumenten oder den Grundrechten zu erfüllen. Das Zückerchen der Visafreiheit soll in den Partnerländern also Reformen auslösen. Allerdings stehen auf der Liste jener Staaten, deren Bürger ohne Visa in den Schengenraum reisen können, keineswegs bloss gefestigte Demokratien.

Zu einem demokratischen Musterland hat sich in den letzten Monaten auch die Türkei nicht entwickelt. Doch um die Fristen für einen Entscheid bis Ende Juni einzuhalten, muss die EU-Kommission am Mittwoch den EU-Staaten und dem EU-Parlament eine Empfehlung zur Reisefreiheit unterbreiten. Die Türkei habe zwar ein beachtliches Reformtempo an den Tag gelegt, doch bis Montag erst gut 60 der 72 Kriterien ihres Visa-Fahrplans erfüllt, heisst es in der Kommission. Die EU hatte stets betont, dass Ankara alle Kriterien zu erfüllen habe – womit die Kommission noch keine positive Empfehlung abgeben könnte. Allerdings würde damit der Flüchtlingsdeal gefährdet, den Präsident Recep Tayyip Erdogan platzen zu lassen droht, wenn die EU der Türkei die Reisefreiheit verweigere.

Eine Klausel für den Notfall

Nun zeichnet sich ab, dass die Kommission am Mittwoch die Aufhebung der Visumspflicht empfiehlt, aber für Juni einen weiteren Bericht ankündigt über die Erfüllung der noch ausstehenden Kriterien, zumal gewisse Bedingungen aus zeitlichen Gründen nicht sofort erfüllbar seien, wie es in Brüssel heisst. Damit würde die Kommission den definitiven Entscheid verzögern, die heisse Kartoffel aber bereits jetzt ans EU-Parlament und an die Mitgliedstaaten weiterreichen, die den Entscheid über die Reisefreiheit am Ende fällen müssen.

Aus dem EU-Parlament war in den letzten Wochen heftige Kritik am autoritären Kurs Erdogans laut geworden, weshalb die Zustimmung des Parlaments mehr als eine Formalität ist. Auch unter den EU-Staaten herrscht Unbehagen, da die Visafreiheit für die 75 Millionen Türkenvielerorts innenpolitisch höchst umstritten ist. Deutschland und Frankreich haben daher letzte Woche eine Art Notbremse vorgeschlagen, die es ermöglichen würde, die Reisefreiheit bei Bedarf rasch wieder einzuschränken.

Auch die Kommission will dem Vernehmen nach die Aufhebung des Visumszwangs an Bedingungen knüpfen. Zum einen soll festgehalten werden, dass die Reisefreiheit nur so lange gilt, wie die Türkei ihre Pflichten aus dem Flüchtlingspakt erfüllt – also die Grenzen sichert und Flüchtlinge zurücknimmt. Zum anderen dürfte sie auch die Forderung nach einer Notbremse aufnehmen.

Angst vor der Massenmigration

Bereits heute gibt es einen Mechanismus, mit dem die EU als Ultima Ratio die Reisefreiheit für Bürger eines Landes wieder suspendieren kann. Diese Klausel soll künftig einfacher aktiviert werden können – und zwar nicht nur in Bezug auf die Türkei. Unlängst hat die Kommission die Reisefreiheit für Ukrainer und Georgier beantragt, am Mittwoch dürfte sie nicht nur für die Türken, sondern auch für die Kosovaren grünes Licht geben. Damit könnten in nächster Zeit theoretisch bis zu 130 Millionen zusätzliche Personen ohne Visum in den Schengenraum reisen. Die EU müsse prüfen, ob die Regeln noch zeitgemäss seien, sagt ein westeuropäischer Diplomat. Gemäss den Vorschlägen aus Paris und Berlin soll die Notbremse aktiviert werden, wenn die Zahl jener Menschen stark steigt, die legal einreisen, aber irregulär in der EU verbleiben. Auch wenn die Zahl der Asylsuchenden aus einem Land explodiert oder irreguläre Migranten nicht zurückgenommen werden, soll der Mechanismus greifen.

Im Falle der Türkei spricht indes wenig dafür, dass es zu einer sofortigen Massenmigration nach Europa käme. Zum einen ist die Visumsfreiheit auf Reisen von bis zu 90 Tagen beschränkt. Zum anderen haben die meisten der 75 Millionen Türken gar keinen Pass. Gemäss einer amtlichen Aufstellung hat die Türkei rund 16 Millionen Pässe ausgestellt. Die Reisefreiheit gälte nur für Türken mit biometrischen Pässen. Wie viele Dokumente mit elektronisch gespeicherten Fotos und Fingerabdrücken versehen sind, ist unklar – die EU-Kommission geht aber davon aus, dass erst ein Bruchteil aller türkischen Bürger über einen biometrischen Pass verfügt.

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