In der Region Urabá im äussersten Nordwesten Kolumbiens ist vom Friedensprozess wenig zu spüren. Hier herrscht der wichtigste Drogenboss Kolumbiens, und Drogen sind allgegenwärtig.

Otoniel, der mächtigste Drogenboss in Kolumbien seit Pablo Escobar, ist noch immer auf freiem Fuss. Das Kerngebiet seines Clans ist die Region Urabá im Nordwesten des Landes. Seit einem Jahr spitzt sich dort der Kampf gegen seine kriminelle Organisation zu.

«Willst du wissen, wo Otoniel ist?» Dorlans Augen blitzen auf. Der rechte Mundwinkel des jungen Mannes zieht sich zum frechen Lächeln nach oben. «Jeder weiss es. Ich, die Armee, die Polizei.» Der Kellner des Cafés steht in Hörweite und regt sich nicht. Dorlan redet nur, weil er am Busbahnhof in Medellín sitzt, nicht in der rund 350 Kilometer weiter nördlich gelegenen Karibikregion Urabá. Dort hat Dorlan Familienangehörige. Dort hat der Clan das Sagen, die sogenannten Urabeños.

In Kolumbien herrscht seit über 50 Jahren Krieg. Die Macht des kolumbianischen Staates wird nicht nur von den beiden linksrevolutionären Guerillas Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc) und Ejército de Liberación Nacional (ELN) herausgefordert, sondern auch von den sogenannten Bandas criminales oder Bacrim. So werden in Kolumbien kriminelle Banden bezeichnet, die sich aus ehemaligen Angehörigen des Paramilitärs gebildet haben, die sich unter Präsident Uribe der Demobilisierung entzogen haben. Zu ihren kriminellen Geschäften gehört insbesondere der Drogenschmuggel. Die mächtigste Bacrim im Land ist der Clan Úsuga, an dessen Spitze Daniel Antonio Úsuga David alias Otoniel steht. Inzwischen sind von der kolumbianischen Regierung und den USA insgesamt 5,85 Millionen Dollar auf den Kopf des Urabeño-Chefs ausgesetzt worden.

Seit über einem Jahr finden chirurgische Einsätze unter dem Namen Operation Agamenón statt, die sich ausschliesslich gegen Otoniels Organisation richten. Polizei und Militär vermelden Erfolge, nehmen hochrangige Mitglieder und Handlanger fest, fangen Geld- und Drogenlieferungen ab. Vor Agamenón soll der Clan laut der Stiftung Paz y Reconciliación im ganzen Land etwa 50 Kommandanten und 2900 weitere Mitglieder beschäftigt haben. Zusätzlich soll er mit etwa 12 000 Personen in Verbindung gestanden sein.

Die Perle in der Krone

Yerison schliesst die verwitterte Holztür seines Hauses in Acandí auf. Die Tür ist unlackiert, und am einstöckigen Haus im Zentrum des Städtchens mit 5000 Einwohnern hängt ein Werbeplakat der Polizei. Der 39-Jährige betreibt eine Ortsrufanlage, bei ihm laufen die Informationen über die Gemeinde zusammen. Jeden Morgen um 6 Uhr setzt Yerison sich an seinen alten Tisch und verkündet durch sein Mikrofon und den angeschlossenen Lautsprecher im Garten, was er an diesem Tag für wichtig hält. Als die Sprache auf die Urabeños kommt, schliesst er die Tür.

«Acandí ist für den Clan eine Festung, die Perle in der Krone», sagt Yerison mit leiser Stimme. Die Lage im äussersten Nordwesten Kolumbiens macht den Ort für die Kriminellen so wichtig. Die Haupteinnahmequelle Otoniels und seiner Organisation ist der Drogenschmuggel. Acandí ist das Tor zwischen Süd- und Mittelamerika. Hier ist der Weg nach Norden der kürzeste, sowohl zu Land als auch zu Wasser. Die fehlende Strassenverbindung nach Süden bedeutet zugleich weniger Zugriffsmöglichkeiten für das Militär.

Vor 1995 war Acandí Gebiet der Farc-Guerilla, dann kam das rechtsgerichtete Paramilitär, massakrierte Bauern und vertrieb 300 Familien von ihren Höfen. Die Agrarproduktion kam fast zum Erliegen, die Lebenshaltungskosten stiegen. Als sich die gefürchtete paramilitärische Terrororganisation Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) im Jahr 2006 auflöste, entstand ein Machtvakuum. Nun haben die Urabeños in der gesamten Region das Sagen. «Wenn der Clan nicht will, passiert hier gar nichts», sagt Yerison.

Zwei Strassen von Yerisons Rufanlage entfernt steht eine Gruppe junger Frauen und Männer vor dem Rathaus. Sie kommen von einer Informationsveranstaltung über wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten. Oben, im ersten Stock des weiss gestrichenen Gebäudes, sitzt die Bürgermeisterin Lilia Córdoba in ihrem Büro. Ein Ventilator macht die karibische Hitze erträglicher. «Die Gewalt kommt vor allem von der anderen Seite des Golfs, aus Turbo», sagt sie. Acandí sei eine ruhige Gegend, wo alle ihr Geld im primären Sektor oder im Tourismus verdienten. Und der Clan? Lilia Córdoba antwortet ausschweifend, nichtssagend. Auf mehrmalige Nachfrage erwidert sie, die Polizeiwache im Ort solle ausgebaut werden.

Vor einem etwa hundert Meter vom Rathaus entfernten Flachbau sitzt die Exekutive von Acandí auf Plasticstühlen unter einem Sonnendach am Strand, mit nackten Oberkörpern, Sonnenbrillen und Tarnhosen. Auf einem Holztisch liegen Schnellfeuergewehre. Die Wache sieht aus wie eine Verteidigungsanlage. Übermannshohe Sandsackwände schützen das Gelände vor Kugeln und Blicken, auf der anderen Seite gibt es Schiessscharten sowie offene Waffenschränke, die durch die vergitterten Fenster sichtbar sind. Wer dem Gebäude zu nahe kommt, wird forsch vertrieben. An die Aussenwand ist ein ausgebleichtes Plakat gekleistert; darauf sind Otoniel und seine zur Ergreifung ausgeschriebenen Komplizen zu sehen.

Fünf Schritte gegenüber dem Rathaus sitzt Álvaro auf einem Plasticstuhl vor dem leeren Hotel seines Bruders. «Natürlich habe ich geschmuggelt, wie fast alle hier», erzählt der ältere Mann freimütig und breit grinsend. «Erst haben wir Whisky mit unseren Booten nach Norden gebracht, dann Koks.» Irgendwann sei er von der nordamerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA geschnappt worden. Er wanderte ins Gefängnis, viele Jahre. Nun übernimmt er Gelegenheitsarbeiten. Derzeit streicht er die Wände des Hotels, ein Gefallen für seinen Bruder. Álvaro macht es wie viele Kolumbianer – er arbeitet, ohne offiziell registriert zu sein, etwa als Handwerker oder Putzkraft.

Kopfgeld auf Polizisten

Immer wieder lassen die Urabeños am Golf gedruckte Pamphlete verteilen. So verkünden sie Neuigkeiten oder drohen. Mit Flugblättern rief der Clan Ende März auch zu einem zweitägigen bewaffneten Streik auf. Videos der Warnungen kursierten über soziale Netzwerke im Internet. Kaum jemand traute sich aus dem Haus, das öffentliche Leben war lahmgelegt. Zwei Polizisten wurden erschossen, weil sie die Anweisung ignoriert hatten.

Wegen des Clans leben die staatlichen Sicherheitskräfte derzeit im ganzen Land gefährlich. Otoniel hatte kurz zuvor Kopfgeld auf Polizisten ausgesetzt, als Rache für die Tötung eines engen Vertrauten am Pazifik mit Namen Guagua. Dieser allein soll in seinem Einflussbereich im Departement Chocó pro Monat für den Schmuggel von acht bis zehn Tonnen Kokain verantwortlich gewesen sein. Seither bietet der Bandenchef jedem rund 630 Dollar, der einen Polizisten erschiesst.

Mindestens dreizehn Ordnungshüter sind seither getötet worden, unter ihnen drei im beliebten Touristenziel Cartagena, am helllichten Tag bei einer Verkehrskontrolle. Seit der Zeit von Pablo Escobar und dem Medellín-Kartell habe er nicht mehr von einem solchen Vorgehen der Drogenmafia gehört, sagte der Generalstaatsanwalt Kolumbiens, Alejandro Ordóñes. Es zeige, wie mächtig der Clan durch das Kokain geworden sei. Ein Kilogramm des weissen Pulvers ist in Urabá derzeit ebenso viel wert wie ein Polizistenleben: etwa 630 Dollar. Ein Spottpreis, der sich auf der Reise der Droge nach Norden jedoch mit jeder Hand erhöht, die sie weiterreicht. Eine Hürde ist dabei der Golf.

Komplette Kontrolle unmöglich

In Turbo, auf der östlichen Seite der grossen Meeresbucht, stehen Polizisten dem Gewimmel der Menschen am überdachten Quai fast tatenlos gegenüber. Wer nach Acandí übersetzen will, muss hier am frühen Morgen ein Boot besteigen. An eine gründliche Gepäckkontrolle ist nicht zu denken. Häufig sind die Taschen bereits in Plasticsäcke verpackt, um sie vor Spritzwasser in den offenen, länglichen Booten mit Aussenbordmotoren zu schützen.

Turbo ist die grösste Stadt am Golf. «Jeder, der 16 oder 17 Jahre alt ist, bekommt eine Waffe und ein Motorrad angeboten», erzählt Dorlan. Die Gegenleistung für den Clan und seine Verbündeten sind meist Botengänge, von einem Viertel zum anderen. Viele führen Aufträge aus und wissen noch nicht einmal, für wen. Muss jemand beseitigt werden, findet sich immer jemand, der keine Fragen stellt, eine Pistole hat und schnell 600 Dollar verdienen will. Otoniels Geburtsort Necoclí liegt etwa eine halbe Autostunde entfernt.

Offiziell leben die meisten Menschen hier von der Landwirtschaft. Der landesweite Mindestlohn liegt derzeit bei knapp unter 230 Dollar pro Monat, der Verdienst im primären Sektor ist laut staatlicher Statistik fast gleich. «Sterben oder Lebensmittel oder Koka anbauen», seien früher die Optionen in der Region gewesen, sagt ein Uno-Mitarbeiter, der seit den 1990er Jahren in Turbo wohnt. Es habe eine totale Abwesenheit des Staates gegeben. Immer wieder gab es Massaker. «Damals galt der Satz: Wenn du nach Turbo fährst, kommst du nicht zurück», erklärt er. Inzwischen sei es zumindest auf den Strassen ruhiger geworden. Doch der zentrale Umschlagplatz für Kokain ist Turbo geblieben.

Lukrativer Weg nach Norden

Mit Booten überquert die Droge in Kleinstmengen den Golf und wird in Acandí gesammelt. Von dort bringen Kuriere die Drogenpakete auf dem Land- oder Seeweg nach Panama, über das Meer auch bis nach Puerto Rico, sogar bis nach Mexiko. Honduras soll besonders gefährlich sein, weil dort die gewalttätigen Jugendbanden der Mara Salvatrucha warten. Sie nehmen die Schmuggler und ihre Ladung als Geiseln, dann fordern sie für beides Lösegeld.

Die meisten Kuriere fangen als Rucksackträger (Mochileros) an. Sie bekommen als Belohnung zwischen 70 und 120 Dollar je abgeliefertes Kilo. Eine Strasse nach Panama gibt es nicht, aber interne Dokumente der kolumbianischen Antidrogenpolizei zeigen, auf welchen Routen die Mochileros von Acandí aus zu Fuss durch das unwegsame, bewaldete Gelände über die Grenze laufen. Demnach gibt es zwischen den Urabeños und den Farc eine Abmachung: Die Guerilla kassiert für den illegalen Grenzverkehr 125 Dollar Zoll pro Kilo Kokain, dafür kommt sie den Kurieren nicht in die Quere.

Über Land sind es 15 bis 20 Personen, die hintereinander den schmalen Schmugglerpfaden folgen – die Ermittler nennen es deshalb Ameisenlaufen. Jeder Kurier trägt bis zu 25 Kilogramm, für die Strecke brauchen sie etwa sieben Tage. «Es ist dramatisch. Ich kenne das Gebiet dort», sagt Yerison. Er selbst hat vor Jahren eine der Strecken für den Grenzübertritt genutzt. Vor allem erinnert er sich an einen Anstieg, fast senkrecht, bei dem er klettern musste, so dass er nur noch die Füsse des Vordermanns sah. «Man trägt auch ein Gewehr. Kokain ist nun einmal ein Geschäft.»

Wer all die Strapazen und Gefahren überlebt, der wird «gekrönt», so nennen sie das in Acandí. Wenige investieren ihren Verdienst in ein eigenes Boot, das bis zu 2,5 Tonnen Ladung fasst. Entsprechend höher ist auch die Entlöhnung des Kuriers. Doch den Lohn verprassen die meisten. Sie kaufen Drogen für sich selbst und feiern. Kinder und Jugendliche wachsen mit dem Lebensstil ihrer Väter und Freunde auf. «Das Problem ist nicht nur der Clan, es ist die Kultur in den Köpfen», sagt Yerison. «Wie soll man etwas so Lukratives stoppen?» Draussen sitzen die Jugendlichen an diesem Tag bis in die Nacht in Cafés. Sie trinken und lachen. Dabei tönt Narcocorrido durch die Strassen, ein Genre aus Mexiko. Die Musiker besingen das Leben von Drogenschmugglern.

Kokain, Gewalt und der Golf von Urabá

Für das Jahr 2015 wurde die Kokainproduktion in Kolumbien von den USA auf 420 Tonnen geschätzt, 68 Prozent mehr als 2014. Damit ist das Land wieder der grösste Kokainproduzent der Welt, vor Peru und Bolivien. Zwischen 2007 und 2012 war die Produktion um 53 Prozent gefallen und seither wieder mässig angestiegen.
Früher exportierte Kolumbien die Droge fast ausschliesslich, inzwischen wird etwa ein Drittel von der eigenen Bevölkerung konsumiert. Ein Grund für den Produktionsanstieg sind auch die ausgesetzten Massnahmen zur Vernichtung von Kokafeldern. Dazu war das möglicherweise krebserregende Glyphosat verwendet worden. Die Anbaufläche vergrösserte sich laut den USA im vergangenen Jahr von 112 000 (2014) auf 159 000 Hektaren.
Den grössten Teil des Kokains sollen der Clan Úsuga und seine Verbündeten verschieben. Es wird geschätzt, dass allein auf der pazifischen Seite im vergangenen Jahr mindestens 120 Tonnen ausgeführt wurden. Die Polizei gibt an, dass im Rahmen ihrer Operation Agamenón die Bacrim 800 Mitglieder verloren hätten. Im Februar 2015 wurde die Fuerza de Tarea Neptuno gegründet, eine Spezialeinheit der Marine gegen Drogenschmuggel in der Karibik.
Obwohl die Gewalt durch die Drogenmafia in Kolumbien im Vergleich zur Situation unmittelbar nach der Jahrtausendwende abgenommen hat, gab es im Land 2015 noch immer 25 Tötungsdelikte pro 100 000 Einwohner. Diese Rate ist immer noch höher, als sie in Mexiko seit Beginn des Anti-Drogen-Krieges 2006 je gewesen ist.

http://www.nzz.ch/international/dossiers/drogenmafia-in-kolumbien-im-herzen-des-beruechtigten-clans-usuga-ld.82847