Der frühere FDP-Bundesrat Pascal Couchepin kritisiert den Brexit und das Ja zur Zuwanderungsinitiative. Er bereut nicht, Blocher einmal als Gefahr für die Demokratie bezeichnet zu haben, würde das heute aber nicht mehr tun.

Hätten Sie gedacht, dass ein Volk das Risiko wählt und entscheidet, aus der EU auszutreten?

Viele Briten glaubten, es gebe nur Chancen. Ich war vor der Abstimmung in England und fand die Debatte sehr seltsam und nicht faktenbasiert. Man wird mir Arroganz vorwerfen, aber eine Mehrheit hat den Brexit gewählt, ohne sich der Tragweite des Entscheids bewusst zu sein. Das war keine Sternstunde der direkten Demokratie.

Der Unmut über die hohe Zuwanderung war ein wichtiger Faktor. Verstehen Sie diese Ängste, die es ja auch bei uns gibt?

Es hat mich stets verblüfft, dass die Orte mit dem höchsten Ausländeranteil oft auch am offensten sind gegenüber der Immigration. Das sieht man in England, aber auch hier. Es gibt ein Bergdorf, das ich sehr mag, es hat mich auch immer unterstützt. Da leben praktisch keine Ausländer. Trotzdem stimmt es jeweils besonders wuchtig gegen Ausländer.

Bei der Arbeit spüren ja vielleicht auch diese Dorfbewohner die Konkurrenz?

Nein. Sie lesen und hören einfach, dass die Welt in Bewegung ist, dass es Tausende Leute an der europäischen Grenze gibt – und da sagen sie sich: Eines Tages wird es auch uns betreffen. Anderswo haben sich die Leute hingegen an die diversen Nationalitäten gewöhnt. Sie sehen, dass es nicht dramatisch ist. Ich glaube, die Angst rührt von einer Ignoranz der Realität her.

Die Angst eines Arbeiters zum Beispiel vor Lohndruck ist keine Realität?

Doch, natürlich. Und es gibt Missbräuche, die zu bekämpfen sind. Aber es gibt eine ganze Reihe von Befürchtungen, die sich auf den fremden Menschen konzentrieren, obwohl andere Entwicklungen, die Digitalisierung, die Globalisierung, viel einschneidender sind. Die eigentliche Angst ist doch die, nicht über die nötigen Werkzeuge zu verfügen, um in der neuen Welt bestehen zu können.

Auch die Schweiz hatte ihr Brexit-Moment mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP.

Ein Fehler war, dass sich der Bundesrat nicht genügend engagiert hatte. Das Ja war aber auch möglich, weil die Leute nicht glaubten, dass es uns derart grosse Schwierigkeiten bereiten würde. Man will beides: die Bilateralen und eine bessere Kontrolle der Zuwanderung. Die Befürworter haben sich entweder getäuscht oder das Volk angelogen, als sie sagten, das sei kein Problem. Sie glaubten, wenn die Regierung intelligent genug sei, könne sie die Interessen der Schweizer gegen jene von 500 Millionen EU-Bürgern verhandeln. Eine heroische Aufgabe! Heroische Kämpfe enden häufig mit dem Tod des Helden.

Wo sehen Sie die Lösung?

Eine mögliche Lösung wäre ein Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative. Der Verfassungsartikel zur Zuwanderung ist ja in sich widersprüchlich: Kontingente sind sicher nicht im wirtschaftlichen Interesse, das er ebenfalls propagiert.

Die Schweiz steht europapolitisch an einem Scheideweg. Wohin soll es gehen?

Wir brauchen ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU, um den bilateralen Weg zu sichern. Wir können in vielen Bereichen nicht einfach gegen unseren wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partner vorgehen.

Sind wir denn Gefangene dieser Realität?

Nein, wir sind Partner. Wenn ich eine Wohnung miete, bin ich doch auch kein Gefangener meines Vermieters. Ich profitiere von der Wohnung und nehme dafür Nachteile in Kauf: Ich muss Miete zahlen, Regeln akzeptieren. Wenn ich das nicht mehr will, dann gehe ich. Aber man soll nicht ständig jammern, wenn man eigentlich drinnen bleiben will.

Schauen wir zurück: Was war für Sie der prägendste Moment als Bundesrat?

Die Rettung der UBS. Das war der dramatischste Moment. Heute, da alles geregelt ist, sieht man darin kein historisches Ereignis mehr. Aber hätten wir es nicht geschafft und wäre es durch den Kollaps der Banken zu einem Einbruch der Wirtschaft gekommen, dann würde man es vielleicht als das wichtigste Ereignis der letzten fünfzig Jahre sehen.

2003 forderten Sie das Rentenalter 67. Das war Ihrer in Umfragen ohnehin eher tiefen Popularität nicht gerade zuträglich.

Ganz so unpopulär war ich gar nicht: An der Urne habe ich in der Regel gewonnen! Das Volk hatte also offenbar Vertrauen in mich. Populär zu sein, ist vielleicht angenehm, aber sekundär.

Sie sind sogar stolz darauf!

Ja (lacht).

Warum?

Es zeigt, dass man nicht so narzisstisch ist.

Und die Forderung bleibt berechtigt?

Ich glaube, selbst die Sozialdemokraten wissen, dass es unumgänglich ist. Es braucht dafür keine brutale Erhöhung, sondern eine Anpassung über Jahre. Aber einmal muss man entscheiden.

2004 hatten Sie Christoph Blochers Haltung als Gefahr für die Demokratie bezeichnet. Haben Sie das je bereut?

Nein. Lesen Sie das Interview! Dumm war das nicht (lacht).

Würden Sie es heute wieder sagen?

Ich greife keinen alten Gentleman an. Aber es ist weiterhin antidemokratisch, zu sagen, das Volk sei der absolute Souverän. Die Menschenrechte etwa stehen über der direkten Demokratie. Sollte jemand Blocher etwas Unrechtes tun, hoffe ich, dass die Richter in Strassburg das korrigieren.

Die Wahlen haben das bürgerliche Lager gestärkt. Welche Chancen birgt das?

Ach, wir leben in der Schweiz. Kaum gibt es einen Trend in eine Richtung, wird er anderswo auch schon wieder korrigiert. Heute ist der Ständerat dieses Korrektiv. Und als Vertreter einer politischen Minderheit im Wallis, als Vertreter einer Sprachminderheit in der Schweiz sage ich: zum Glück!

Sie hatten im Bundesrat von 2003 bis 2007 selber eine FDP-SVP-Mehrheit erlebt.

Die Dinge sind nie so simpel im Bundesrat. Man stimmt nicht oft ab, und es gibt wechselnde Mehrheiten.

Die SVP hatte Ihnen vorgeworfen, nicht konsequent bürgerlich zu sein; heute sagt sie das Gleiche über Didier Burkhalter.

Was heisst schon bürgerlich? Ich weiss, was liberal heisst. Unbürgerlich zu sein, wirft man gerne jemandem vor, der anderer Meinung ist. Das ist Polemik.

Sie verfolgen die Politik aufmerksam. Was treibt Sie heute noch an?

Ich habe kein Archiv und habe nie ein Tagebuch geführt. Mich interessiert die Schweiz meiner Enkelkinder. Die Zukunft.

Welches ist die grösste Gefahr für die Prosperität der Schweiz?

Die Rigidität des Geistes. Zu meinen, es gebe absolute Barrieren. Heute gibt es die Versuchung, dem Landesrecht absolute Priorität vor internationalem Recht zu geben. Das Ziel der Attacke ist die Menschenrechtskonvention. Aber wenn das Volk entscheidet, der Konvention beizutreten, dann wird sie eben zu Landesrecht. Sie schützt den Bürger in der Regel vor dem Staat. Und nun will die staatsskeptische SVP das staatliche System plötzlich vor dem Bürger schützen?

Beobachten Sie denn eine zunehmende geistige Rigidität in der Schweiz?

Ja, es beunruhigt mich, dass die politische Diskussion so flach geworden ist. Früher gab es Versammlungen, wo der einfache Bürger seine Meinung äussern konnte. Heute schaut man TV, ohne sich in der Debatte zu engagieren – und wenn, dann nur mit Slogans.

Rüstiger Rentner mit ungebrochener Lust an der Debatte

gmü. Martigny ⋅ Stolz zeigt Pascal Couchepin im Garten auf die prächtig gedeihenden Tomatenstauden, um die er sich persönlich kümmert, und pflückt für die Besucher freudig eine Handvoll Kirschen und Himbeeren. Der ehemalige FDP-Bundesrat und rüstige Rentner lebt in einer kleinen, grünen Oase mitten in Martigny, wo er 1942 geboren wurde und bereits als 26-Jähriger in die Exekutive gewählt worden war. Auf dem Tisch liegen die «Financial Times» und die NZZ, die er liest, seit er 20 Jahre alt ist.

2009 war der damals 67-jährige Unterwalliser nach elf Jahren in der Landesregierung – zunächst als Volkswirtschaftsminister, später als Innenminister – von der Politbühne abgetreten. Verstummt ist er aber nicht. Er äussert sich an Veranstaltungen und in den Medien regelmässig und lustvoll zum nationalen und internationalen Geschehen, wiederkehrend sind staats- und europapolitische Themen. Couchepin ist weiterhin auch Mitglied der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs); einen EU-Beitritt erachtet er als fernes, aber wünschbares Ziel.

Auf Mandate in der Privatwirtschaft hat Couchepin nach seiner Amtszeit bewusst verzichtet. Stattdessen liess er sich unter anderem zum Sondergesandten der Internationalen Organisation der Frankofonie für die afrikanische Region der Grossen Seen ernennen, er präsidiert den Stiftungsrat der päpstlichen Schweizergarde wie auch jenen der Schweizerischen Archäologischen Schule in Griechenland und ist Mitglied des Stiftungsrates des Kinderhilfswerks Terre des Hommes. Es sind Mandate, die seinen langjährigen Einsatz für humanistische Werte widerspiegeln.

Als prägendsten Moment seiner Amtszeit nennt er die Rettung der UBS (vgl. Interview). Das war 2008. Couchepin war Bundespräsident, Finanzminister Hans-Rudolf Merz’ Herz (fdp.) stand temporär still, und Eveline Widmer-Schlumpf (bdp.) sprang ein. Die Abwendung des Desasters – der Kollaps der Grossbank – gelang. Couchepin bewies seine Qualitäten als Elder Statesman, die Bühne überliess er Widmer-Schlumpf. Zu seinen schwersten Niederlagen als Innenminister gehörte die wuchtige Absage des Volks an die 11. AHV-Revision im Jahr 2004.

Es war ohnehin eine turbulente Legislatur, als das Alphatier Couchepin von 2003 bis 2007 im Bundesrat auf das Alphatier Blocher traf. Für Aufregung sorgte der streitlustige Freisinnige etwa 2004, als er Blochers Haltung in der «NZZ am Sonntag» als «gefährlich für unsere Demokratie» bezeichnete. Von den Gegenangriffen der SVP hat er sich nie beeindrucken lassen, ebenso wenig von seiner legendären Unpopularität. Dieser hatte er 2003 mit der Forderung nach der Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre weiter Auftrieb gegeben.

http://www.nzz.ch/schweiz/altbundesraete-im-interview-ich-greife-keinen-alten-gentleman-an-ld.105149