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Für Erdogan ist der Putsch „ein Geschenk Allahs”

Dilettantisch ausgeführt und schnell beendet: Der Umsturzversuch in der Türkei wirft viele Fragen auf. Nur eines ist sicher – der Profiteur heißt Erdogan. Er verliert keine Zeit, die Macht zu nutzen.

Vielleicht taugt das, was die Türkei in der Nacht von Freitag auf Samstag erlebt hat, zu einer großen, heroischen Erzählung: wie der von Prag 1968 oder von Chile 1973, nur mit glücklichem Ende versteht sich.

Eine Geschichte von Bürgerinnen und Bürgern, die sich furchtlos, aber friedlich einer Militärmacht entgegenstellen. Von Polizisten und loyalen Soldaten, die Seite an Seite mit den Bürgerinnen und Bürgern nicht weniger als die verfassungsmäßige Ordnung schützen. Von Abgeordneten der Regierung wie der Opposition, die sich mitten in der Nacht im Parlament versammeln, während das Gebäude bombardiert wird. Von regierungsnahen wie regierungskritischen Journalisten, die gemeinsam die Demokratie verteidigen.

Vielleicht war die Nacht vom 15. auf den 16. Juli tatsächlich die Nacht, in der, wie es der vormalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu formulierte, die türkische Gesellschaft bewiesen hat, dass die lange Geschichte der Staatsstreiche endgültig beendet ist in der Türkei; dass die Republik kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag ihren Kinderschuhen entwachsen ist – Kinderschuhen, die, um im Bilde zu bleiben, von Anfang an Soldatenstiefel waren. Vielleicht hat der jetzige Ministerpräsident Binali Yildirim darin recht, als er den 15. Juli zu einem „Feiertag der Demokratie” erklärte.

Vielleicht.

Kein anderer Putsch in der Türkei war so stümperhaft

Doch wenn die Geschichte so lautet, dann gehört zum vollständigen Bild auch das: Drei echte und einen „kalten” Putsch hat die Türkei erlebt. Aber keiner war derart stümperhaft ausgeführt wie dieser.

Beim letzten „großen” Militärputsch 1980, nach dem Hunderttausende in den Foltergefängnissen verschwanden, fuhren die Panzer um drei Uhr nachts los. Um 3.59 Uhr wurde im staatlichen Rundfunk die Erklärung des vom späteren Präsidenten Kenan Evren geführten Generalstabs verlesen, eine Stunde später wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Um 5.30 Uhr klopften bei Ministerpräsident Süleyman Demirel, Oppositionsführer Bülent Ecevit und weiteren führenden Politikern Soldaten an der Tür. Kurz: Als die Türkei am Morgen des 12. September 1980 erwachte, war die Machtergreifung vollbracht.

Die jetzigen Putschisten hingegen begannen zur Primetime: Um 21.30 Uhr versperrte eine Einheit der Gendarmerie – einer Teilstreitkraft der Armee, die in ländlichen Gebieten Polizeiaufgaben erfüllt – beide Brücken über den Bosporus. Allerdings nur in der Fahrtrichtung von Asien nach Europa. Kurz darauf überflogen Kampfflugzeuge im Tiefflug mehrere Regierungsgebäude in der türkischen Hauptstadt Ankara.

Zwar wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand, was vor sich geht im Land. Doch die Bilder von diesen seltsamen Vorgängen flimmerten schon bald über die türkischen Nachrichtensender – etwa so, als würde jemand, der eine Bank am Potsdamer Platz überfallen will, sich auf dem Kurfürstendamm einen Strumpf übers Gesicht ziehen und laut „Überfall” rufen.

Das offizielle Militär schlug schon bald zurück

Dabei hätten diese Putschisten eigentlich eine längere Liste an sofort zu verhafteten Personen in petto haben müssen, schließlich ging dieser Coup nicht von der Armeeführung aus.

Auch für eine solche Intervention bietet die türkische Geschichte ein Beispiel: den Putsch vom 27. Mai 1960, der mit der Hinrichtung des damaligen konservativen Ministerpräsidenten Adnan Menderes endete und dem Land einerseits die demokratischste Verfassung seiner Geschichte bescherte, aber zugleich die unselige Reihe von Militärinterventionen einleitete.

Die jungen Offiziere aus den mittleren Diensträngen zogen sofort nicht nur den damaligen Generalstabschef aus dem Verkehr, sondern eine ganze Reihe amtierender und ehemaliger Generäle. Die Putschisten vom Freitag beließen es dabei, Generalstabschef Hulusi Akbar sowie den Kommandanten der Gendarmerie festzusetzen. Das war so stümperhaft wie folgeträchtig, denn bald schon schlug das offizielle Militär zurück.

Merkwürdig auch, dass bei einem Putsch, in den Offiziere der Luftwaffe besonders verwickelt gewesen sein sollen, der Staatspräsident aus der Südwesttürkei quasi mit Ankündigung nach Istanbul fliegen kann, während sein Feriendomizil in Marmaris erst Stunden später beschossen wird, ebenso wie das Parlamentsgebäude in Ankara.

Übrigens auch das eine seltsame Aktion: Putschisten, die erklären, sie wollten die Demokratie wiederherstellen, fliegen Luftangriffe ausgerechnet auf das Parlament.

Erdogan wendet sich bei CNN-Türk an die Bevölkerung

Genauso fragwürdig ist die Kommunikation rund um das Ereignis: Die türkische Öffentlichkeit erfährt nicht etwa zuerst von den Putschisten von der Machtergreifung, sondern von Ministerpräsident Yildirim, der telefonisch im Nachrichtensender NTV zugeschaltet worden ist. Tritt man einen Putsch los – und überlässt die Verkündigung ausgerechnet jenen, die man stürzen will?

Kurz vor Mitternacht dringen Soldaten ins Gebäude des Staatssenders TRT ein und zwingen eine Sprecherin dazu, eine Erklärung des „Rats für Frieden im Land” vorzulesen. Die Putschisten argumentieren mit dem „systematischen Bruch der Verfassung und des Rechts” und versprechen, die Gewaltenteilung und die „laizistische und demokratische Ordnung” wiederherzustellen.

Der Name spielt auf ein Zitat des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk: „Frieden im Land, Frieden in der Welt.” Während TRT-Nachrichtensprecherin Tijen Karas zu einem Gesicht der Nacht wird, läuft auf den privaten Kanälen der normale Sendebetrieb weiter.

Aus den Moscheen des Landes wird unterdessen aus Protest zum Gebet aufgerufen, ein paar Minuten später ist Erdogan per Videoanruf live bei CNN-Türk zu sehen. Der Staatspräsident ruft in wackliger Bildqualität die Bevölkerung dazu auf, auf die Plätze und an die Flughäfen zu strömen – eine bemerkenswert kühne Aktion, der eine Textnachricht an alle türkischen Handybesitzer folgt. Offenbar steht die türkische Staatsführung in engem Kontakt zu den Netzwerkbetreibern.

In die Redaktionsräume der Dogan-Medien (außer CNN-Türk unter anderem der Sender Kanal D und die Tageszeitungen „Hürriyet”) kommen die Soldaten erst drei Stunden später, da haben entschlossene Polizisten und Bürger die Putschisten bereits im TRT-Gebäude überwältigt.

Nicht der erste dilettantische Putschversuch in der Türkei

Auch für einen dilettantischen Putschversuch bietet die türkische Geschichte ein Bespiel: Oberst Talat Aydemir, der im Februar 1962 und im Mai 1963 gleich zwei gescheiterte Versuche anführte. Atatürks Weggefährte Ismet Inönü, damals Ministerpräsident, spottete über „Talat und seine dreieinhalb Mann”. Bei den Putschisten vom Freitag stellt sich die Frage, ob sie überhaupt auf „dreieinhalb Mann” kamen.

Zahlenmäßig waren ihre Kräfte jedenfalls den paramilitärischen Einheiten der Polizei unterlegen. Verlässliche Zahlen über die Mitwirkenden von Samstagnacht gibt es nicht.

Doch am Flughafen von Istanbul sind in der Nacht nur wenige Panzer zu sehen. Und der zentrale Taksim-Platz wird zunächst von einer größeren Gruppe Soldaten abgeriegelt, doch schon wenige Stunden später hat man die meisten Kräfte abgezogen.

Gegen zwei Uhr nachts steht nur noch ein Häuflein von vielleicht zwanzig Soldaten an der Atatürk-Statue, umringt von mehreren Hundert Bürgern. „Soldaten, zurück in die Kaserne!” skandieren sie. Die Soldaten umklammern ihre Maschinenpistolen, aber man sieht den jungen Gesichtern an, woher sie stammen – Wehrpflichtige aus Anatolien – und was sie empfinden: Verunsicherung, die meisten Angst.

Immerhin: Am Taksim-Platz gellen lediglich aus der Entfernung Warnschüsse in die Luft. Weder schießen die Soldaten auf die Menge, noch versucht die Menge, die Soldaten zu lynchen, wie sie es später am Flughafen tun wird. Auf der Bosporusbrücke wurde nach dem Ende der Kämpfe ein Soldat von der Brücke geworfen, einem anderen die Kehle durchgeschnitten.

Die Gülen-Bewegung wirft viele Fragen auf

Doch das größte Fragezeichen tut sich hinter den vermeintlichen Urhebern auf: der Gemeinde des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen. Im Jahr 2002, als die heutige Regierungspartei AKP die Macht übernahm, waren Erdogan und Gülen noch Verbündete. Erdogan brachte die Massenbasis mit, Gülen das gut ausgebildete Personal, um die alten Eliten im Beamtenapparat abzulösen.

Ende 2013 zerbrach dieses Bündnis im Zuge der Korruptionsermittlungen, die Gülen-nahe Staatsanwälte gegen verschiedene Minister und das persönliche Umfeld von Erdogan führten.

Seit dem Bruch ist die Gülen-Gemeinde in der Türkei zu einem Sündenbock geworden, den man für alles mögliche verantwortlich machen kann. Ob es um einen Missbrauchsfall in einer AKP-nahen Bildungseinrichtung geht oder die Völkermordresolution des Deutschen Bundestages – stets findet sich jemand aus dem Regierungslager, der die „Parallelstruktur” dafür beschuldigt, mit der immer die Gülen-Bewegung gemeint ist. Seit geraumer Zeit gilt sie in der Türkei als terroristische Organisation.

Bislang war nur bekannt, dass Gülen – damals im Auftrag der AKP – vor allem im Polizeiapparat und in der Justiz hochrangige Positionen übernommen hatte. Von einer größeren Unterwanderung des Militärs wusste man nichts.

Und wenn sich die Gülen-Bewegung im Militär so ausbreiten konnte, warum hat sie dann nicht zum Höhepunkt des Konflikts mit der AKP zu einer solchen Maßnahme gegriffen, als ihre Gefolgsleute noch nicht aus dem Staatsapparat verdrängt waren, ihre Medien noch ungehindert arbeiten konnten und ihre Finanzquellen sprudelten?

Der Putschversuch nutzt vor allem: Recep Tayyip Erdogan

Die Möglichkeit, dass es sich bei den Tätern um stümperhafte Offiziere handeln könnte, zieht die AKP-Führung überhaupt nicht in Betracht – obwohl es noch keine zehn Jahre her ist, dass der ehemalige Generalstabschef Ilker Basbug und zahlreiche weitere hochrangige Militärs wegen angeblicher Verschwörungspläne verurteilt worden sind. Die Prozesse führten damals Sonderstaatsanwälte der Gülen-Bewegung; die Urteile sind inzwischen alle einkassiert, während die Ankläger von einst heute auf der Flucht sind.

Allerdings gibt es für den Verdacht, der sich so manchem Erdogan-Kritiker aufdrängt, dass die ganze Sache eine Inszenierung gewesen ist, keinen Beweis. Und es scheint kaum vorstellbar, dass jemand ein so unkalkulierbares Risiko eingehen würde – von der Machbarkeit einmal ganz abgesehen. All diese Merkwürdigkeiten lassen sich auch mit Dilettantismus erklären. Eine andere Möglichkeit über die in Ankara spekuliert wird: Es gab tatsächlich Putschpläne. Doch diese Pläne sickerten durch. Dieser These zufolge war die Staatsführung vorab informiert und konnte Vorkehrungen treffen und die Pläne womöglich sabotieren.

Als Beweis reicht jedenfalls nicht, dass der gescheiterte Umsturzversuch vor allem einem nutzt: Recep Tayyip Erdogan. Als er am frühen Samstagmorgen am Attatürk-Flughafen vor mehrere Tausend Menschen tritt, steht er auf der Treppe zum VIP-Bereich. Während sich in der Menge um ihn herum die Leiber aneinanderdrücken und auch sein Begleitpersonal von der Woge erfasst wird, steht Erdogan unbeweglich im Auge des Hurrikans, so als würde ihn eine unsichtbare Wand vor allem Schieben und Drücken um ihn herum beschützen.

„Hier die Armee, hier der Kommandant”, skandiert die Menge. Oder: „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben.” Und immer wieder: „Allahu akbar!” – „Gott ist groß!”

Ein Präsident, für den Menschen ihr Leben geopfert haben

Eine gefühlte Ewigkeit genießt Erdogan den Triumph. Mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der weiß, dass er nicht nur diese schicksalsschwere Nacht überstanden hat, sondern dass für ihn mit einem Schlag alle Hürden weggefallen sind.

Da wären zum Beispiel die Einschränkungen, die ihm sein Amt auferlegen. Als Präsident darf er (noch) nicht alles, was er möchte. Bislang fand sich in keiner Umfrage eine Mehrheit für Generalvollmachten, weil es auch einem Teil der AKP-Wähler widerstrebte, einen Einzelnen mit so einer Machtfülle auszustatten.

Nach dieser Nacht würde Erdogan wohl jede Abstimmung haushoch gewinnen. Und hatte er seine Macht bereits mit dem Verweis auf die 52 Prozent der Wählerstimmen begründet, wird er künftig eine ganz andere Legimitation haben: Ein Präsident, für den Menschen ihr Leben geopfert haben. Mehr geht nicht.

Ein Präsident, der nicht bloß gewählt ist und wieder abgewählt werden kann, sondern der identisch ist mit dem Volkswillen. Eine Ordnung, die nicht nur von Organen der Staatsmacht beschützt wird, sondern auch von sich selbst ermächtigenden Zivilisten. Erdogan ist das Volk, und das Volk ist Erdogan. Und wer gegen ihn ist, der ist Putschist und Volksfeind.

Der blutige Umsturzversuch kommt wie gerufen

Schon in der Vergangenheit hatte Erdogan Kritik, so etwa die Gezi-Proteste, als Putschversuch bewertet. Dass künftig noch jemand protestieren kann, kritisch über ihn berichten oder gegen seinen Willen Recht sprechen kann, erscheint heute kaum mehr vorstellbar.

Immerhin zeichnet sich in der Putschnacht eine gewisse Versöhnung ab: Mit den Dogan-Medien, die Erdogan zuvor oft angegriffen haben, außerdem mit nationalistischen, womöglich auch der sozialdemokratischen Opposition.

Dass schon am Samstag 2745 Staatsanwälte und Richter, darunter zwei Verfassungsrichter, sowie im ganzen Land 2839 Offiziere und Soldaten festgenommen bzw. suspendiert wurden, deutet darauf, wohin die Reise gehen könnte in der Türkei. So, wie es einige bereits in der Nacht vermutet haben: Der eigentliche Putsch beginnt womöglich erst, nachdem der letzte Schuss gefallen ist.

Dieser blutige, aber stümperhafte Umsturzversuch muss nicht inszeniert gewesen sein. Er kommt nur wie gerufen. Und dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Erdogan auf die Oppositionsparteien zugeht und die Demokratie gestärkt aus dieser Nacht hervorgeht.

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