Deutschland ist in Europa zusehends isoliert. Das liegt an inhaltlichen Differenzen. Aber es liegt auch an der Person Angela Merkel: Sie hat zu wenig Verbündete – selbst unter ihren eigenen Beamten.

Fünf Gründe, warum die Ära Merkel in Europa endet

Die Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) an Brüsseler Gipfeltagen waren immer der Ort, an dem man als Reporter sein musste. Ein mächtiger Block von Christdemokraten in Regierungsverantwortung kam gegen Mittag im Palais der Königlichen Akademien zusammen, tagte, stritt sich, einigte sich. Die Dinge waren oft entschieden, bevor ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs überhaupt angefangen hatte. Die Christdemokraten traten dann, unter deutscher Führung, in vielen Fällen mit ihrer Mehrheit im Kreis der Kollegen in stabiler Gefechtsformation auf.

Deutscher Einfluss in Europa speist sich aus der Quelle wirtschaftlicher Kraft und der Größe des Landes. Doch solches Gewicht allein hilft nicht in Brüssel. Man muss auch dafür sorgen, diese Ressourcen in Gestaltungskraft zu verwandeln. Doch bei eben dieser Transmission deutscher Macht ruckelt es, die Bundesregierung tut sich schwer, die Geschicke des Kontinents maßgeblich zu lenken. Für diesen schleichenden Verlust deutscher Durchsetzungskraft lassen sich fünf Gründe erkennen.

1. Der Wähler bestraft die Mitte

Beim jüngsten Gipfel kurz vor Weihnachten lohnte sich das EVP-Treffen immer noch. Es war viel Zeit, um mit Beratern von Oppositionsführern zu sprechen, über Nicolas Sarkozys Comeback-Pläne etwa, es war Gelegenheit, sich von Vertretern der EU-Kommission die Strategie in der Flüchtlingsfrage auseinandersetzen zu lassen und von den Spaniern die Hoffnung auf Nach- und Einsicht ihres Volkes wenige Tage vor der anstehenden Parlamentswahl. Entschieden wurde drinnen im Saal der Chefs diesmal aber nichts, was den Ausgang des Gipfels entscheidend prägen konnte.

Die Gruppe ist in letzter Zeit kleiner und kleiner geworden, dem Wählerwillen geschuldet: Die Griechen haben vor einem Jahr eine Linksregierung gewählt, auch aus der Wahl in Portugal ging schließlich eine linke Koalition hervor. Die Finnen nahmen den Christdemokraten das Premierministeramt. Die Polen brachten dann im Herbst eine rechtsnationale Regierung an die Macht.

Die spanischen Wähler haben Mariano Rajoy fast jede Chance auf eine weitere Amtszeit genommen, sodass Angela Merkel bei künftigen Vortreffen ihrer Parteienfamilie wohl die einzige Regierungschefin eines großen europäischen Landes sein wird. Der Bundeskanzlerin kommen die gleichgesinnten Partner abhanden. Das schwächt die Christdemokraten nicht nur zahlenmäßig, es nagt auch an der Legitimation ihrer Politik.

2. Merkel gehen die Partner von der Fahne

Sofern diese Politik über Parteiprogramme hinaus überhaupt ein gemeinsames Anliegen ist: Die Partner, die Angela Merkel noch hat, verweigern sich zunehmend ihrer Führung. Die Kanzlerin und Viktor Orbán saßen im Dezember an einem EVP-Tisch – die Vertreter der beiden Extrempositionen, was die Antworten auf die Flüchtlingskrise angeht; von letzteren ist einzig Irlands Taoiseach Enda Kenny in der Lage, EU-Politik maßgeblich zu beeinflussen.

Auf keinen Teil der europäischen Lösung, an der Merkel und Juncker arbeiten, wollen sich Skeptiker recht einlassen.

Den Streit in der Flüchtlingspolitik können Parteierklärungen nicht verschwinden machen, die grundsätzlich verschiedenen Positionen überdauern nach Kompromiss und Fortschritt klingende Gipfel-Schlussfolgerungen. Auf keinen Teil der europäischen Lösung, an der Merkel und Juncker arbeiten, wollen sich Skeptiker recht einlassen: Weder auf den Schutz der Außengrenze in EU-Verantwortung noch auf ein Umsiedlungsprogramm, das legale Migration erlauben würde. Hot-Spots, Registrierungszentren unter EU-Kontrolle, sind auch nicht hilfreich, solange sich halb Osteuropa weigert, die dort registrierten Migranten aufzunehmen.

Der Streit zwischen Merkel und Orbán belegt, dass der politische Kompass zunehmend weniger nach Parteizugehörigkeit ausgerichtet ist, anders als etwa in wirtschaftspolitischen Fragen, welche die auch nicht einfachen vergangenen Jahre prägten. Es kommt noch viel mehr als in der Vergangenheit wieder auf regionale Blöcke an: Die in der Migrationskrise erstarkte Visegrád-Gruppe vereint an der Seite Orbáns rechtskonservative Polen, den Linkspopulisten Robert Fico aus der Slowakei, den Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka aus Tschechien.

Das jüngste, sechs Stunden währende Treffen zwischen Orbán und Jaroslaw Kaczynski, dem starken Mann hinter Polens Regierung, lässt ahnen, dass ihre gemeinsame Vision eines illiberalen Staates Europa in diesem Jahr und darüber hinaus noch arg beschäftigen wird. Gegen die Nichtumsetzung einer Abfallrichtlinie hat Brüssel bewährte juristische Mittel. Gegen eine Politik, die an den Grundfesten des Hauses Europa rührt, gibt es die nicht.

Der „Rechtsstaatsmechanismus”, mit dem die Kommission den polnischen Reformen von Verfassungsgericht und Fernsehen zu Leibe rückt, ist eine Form der politischen Rüge, die sich bestens als ein weiteres Argument in die polnische Erzählung einfügt, die EU sei unter deutscher Führung zu einem Bund von linken Weichlingen verkommen. Die deutsche Europapolitik wird als Gegner angesehen.


EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD)
EU-Parlamentspräsident

Wer Martin Schulz so stark macht

3. Brüssel entwickelt eigenen Willen

Die Entwicklung, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Pendant im Europäischen Parlament, Martin Schulz, derweil ihren Institutionen aufgezwungen haben, steht nur vordergründig im Widerspruch zur Auflösung hergebrachter Parteiallianzen. Eine politische EU-Kommission hat Juncker angekündigt, und er löst das Versprechen ein, sehr zum Unbehagen der Bundesregierung, die vor Weihnachten an EU-Abgeordnete schrieb, die Kommission könne nicht beides sein, politische Akteurin und unparteiliche Hüterin der Verträge. Junckers Politik ist nicht per se gegen Deutschland gerichtet, aber er ruft auch nicht eben mal zum Zweck der Abstimmung in Berlin oder Paris an, bevor er sich äußert.

Mehrheiten für das Programm der Kommission zu organisieren, ist in diesem institutionellen Rahmen die vornehmste Aufgabe des Parlaments, auch gegen den Widerstand des Rates. Es brauchte keine Änderung des EU-Vertrags, um die Kommission in Richtung einer EU-parlamentarisch kontrollierten Regierung mit einer „großen Koalition” aus Christ- und Sozialdemokraten im Rücken (und Nacken, würden Parlamentarier hoffen) zu bewegen.

Es ist eine Mündigkeitserklärung, geboren aus politischem Instinkt und gestützt auf die juristische Expertise zweier hochmögender Deutscher, wie den Institutionen Beinfreiheit zu verschaffen sei: Klaus Welle, Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Vater der Spitzenkandidaten-Idee, und Martin Selmayr, Junckers Kabinettschef. Beide sind Unionsleute, aber für beide ist die Berliner CDU-Parteizentrale sehr fern.

4. Loyalität zu Brüssel, nicht zu Berlin

Sie haben ihren eigenen Kopf und lassen sich aus Berlin nicht gerne etwas nahelegen. Selmayr wurde im vergangenen Jahr von Wolfgang Schäuble für seine „kompetenzwidrige Einmischung” in die Griechenland-Verhandlungen mit fraktionsöffentlichen Verwünschungen belegt: Als es wieder einmal Spitz auf Knopf stand, hatte Selmayr als Junckers Leutnant Optimismus verbreitet und die Finanzminister (die das weitere Rettungspaket bezahlen) unter Einigungsdruck gesetzt.

Im letzten Dezember verschickte Selmayr sehr freundliche Zahlen zu einer vermeintlichen erheblichen Reduzierung illegaler Einreisen in die EU, die einen Erfolg türkischer Bemühungen zum besseren Grenzschutz belegen sollten, sich aber nicht halten ließen. Für Berlin war das überaus kontraproduktiv. Die Bundeskanzlerin braucht einen tatsächlichen Erfolg und wirkliches Bemühen der Türkei, nachdem sie sich durch ihren Besuch bei Recep Tayyip Erdogan kurz vor der türkischen Parlamentswahl so sehr exponiert hat: Hoher politischer Einsatz erfordert eine tatsächliche Gegenleistung, und die kritische deutsche Öffentlichkeit ließe sich kaum lange mit schon auf den zweiten Blick unhaltbaren Zahlentäuschen.

Beide Szenen werfen ein Schlaglicht auf Selmayrs hochpolitische Instinkte, die manchmal auch trügen können. Darüber hinaus aber auch auf die Loyalität Deutscher, die in Diensten der EU stehen: Sie gilt, so soll es sein, dem Dienstherrn, nicht der Regierung des Landes, das den Pass ausstellt. Loyalität zum Dienstherrn EU, das gilt für Selmayr und für Welle.

François Hollande ist mit Frankreich ausreichend beschäftigt, David Cameron will den Job nicht, Rajoy könnte den seinen bald los sein

Franzosen oder Italiener sind da weniger etepetete, wie eine Episode um Italiens Ministerratspräsidenten Matteo Renzi zeigt. Ein Italiener war bis vor wenigen Wochen dasjenige Mitglied von Junckers Kabinett, das mit Rechts- und Migrationsfragen befasst war. Es kam zu wiederholten Meinungsverschiedenheiten des Mannes mit seinem Chef Selmayr, wie Beteiligte berichten. Das kommt vor, und was auch vorkommt in europäischen Institutionen, ist, dass der Ober den Unter sticht. Dem Mann wurde ein anderes Kabinettsmitglied faktisch vor die Nase gesetzt, woraufhin er das Kabinett verließ.

Matteo Renzi muss das Vorkommnis als kriegerischen Akt gewertet haben; sein Europaminister jedenfalls nannte vor Journalisten die Behandlung des Landsmanns in Brüssel „inakzeptabel”, forderte die Benennung eines italienischen Ersatzmanns, eine Forderung, die mit weniger Verve und mehr Diplomatie, in der Sache aber unverändert, vom italienischen Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament, Gianni Pittella, wiederholt wurde. Europäische Flüchtlingspolitik wollen die Italiener von Italienern gemacht sehen.

Das Theater lässt die Italiener dumm dastehen, als wüssten sie sich nicht anders als mit divenhaftem Krach zu helfen, wenn es längst zu spät dafür ist, sich Einfluss zu sichern. Es folgt anderen Provokationen Renzis gegenüber Juncker – und Merkel. Es ist der letzte Punkt, der deutschem Einfluss gefährlich werden kann: Der Kanzlerin erwächst keine echte Konkurrenz für die Rolle als Führungsfigur in der EU, und damit niemand, der satisfaktionsfähig Kompromisse aushandeln kann.

5. Die Kanzlerin hat keine Konkurrenz

Renzi ist ein fähiger Politiker, der Italien kräftig aufmischt und dessen Analyse zum Konkurrenzumfeld in Europa richtig ist: Es gibt unter den Chefs der großen Länder im Europäischen Rat keine geborene Konkurrenz zu Angela Merkel als Führungsfigur. François Hollande ist mit Frankreich ausreichend beschäftigt, David Cameron will den Job nicht, Rajoy könnte den seinen bald los sein. Aber auch Renzi hat noch keinen Hebel für die EU-Ebene gefunden.

Das Fehlen von Führung ist umso bedeutsamer, da die hergebrachte Definition einer EU-Krise nicht mehr greift: Regierungen haben vor Beginn eines Gipfels unterschiedliche Ansichten, drechseln Schlussfolgerungen, mit denen alle leben können, und die Krise ist beigelegt. Die Flüchtlinge aber scheren sich nicht um Brüsseler Papier: Es geht nicht nur um Beschlüsse, sondern um deren rasche Umsetzung, ein schwacher Punkt der EU-Gipfel.

Auf eine europaweite Krise konnten sich immer alle Mitglieder des Europäischen Rats gerade noch konzentrieren. Dann kommen die Terrorattacken in Paris, dann bekommen die chinesischen Turbulenzen weltweite Ausmaße und bedrohen den Wohlstand der EU. Dann kommt der neue Konfessionskrieg im Nahen Osten und stellt eine Lösung für Syrien vehement infrage.

Dann kommt die Silvesternacht in Köln. Alles hat in dieser Krise mit allem zu tun, nichts ist mehr in bearbeitbare Teile zerlegbar, ein Krisenmeer, und niemand in Sicht, der die Fluten zu teilen vermag.

http://www.welt.de/wirtschaft/article151450620/Fuenf-Gruende-warum-die-Aera-Merkel-in-Europa-endet.html