Recep Tayip Erdogan bastelt sich nach dem gescheiterten Putsch ein Ein-Mann-Regime nach seinem Gusto. Vor allem bricht der türkische Präsident mit der Macht der Militärs. Endgültig.

Nur ein paar Hundert Meter vom Areal des türkischen Parlamentsgebäudes entfernt befinden sich die Kommandozentralen der Streitkräfte: ein hoher, weißer Betonbau für die Luftstreitkräfte, mit haushohem Atatürk-Relief das Gebäude der Marine, in einem vorgelagerten, eleganten Flachbau das Heer, neoklassisch der Generalstab, mit dem ersten Stock aus Sandstein. Die Gebäude sind um zwei breite Verkehrsschneisen gruppiert, die eine benannt nach dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, die andere nach dessen Weggefährten und Nachfolger Ismet Inönü.

Nicht nur die Größe, auch die Platzierung der Bauten mitten im Regierungsviertel verdeutlicht, welchen Stellenwert sich das Militär im politischen Leben der Türkei beimaß: den des Hüters der Ordnung, die Mustafa Kemal Atatürk hinterlassen hat; eine Art Gouvernante der Gesellschaft, die sich stets für legitimiert hielt, die Macht an sich zu reißen, wenn sie es für nötig erachtete – wobei sie stets auf die Zustimmung eines Teils der Bevölkerung zählen konnte.

Den kemalistischen Prinzipien verpflichtet, aber mehr noch dem Prinzip der Gesellschaftstechnik: Nach ihrer Machtergreifung im September 1980 hielten die Militärs eine gelenkte Islamisierung für ein probates Mittel, um die Linke zu schwächen. Bei ihrer Intervention im Februar 1997 meinten sie, eine drohende Islamisierung verhindern zu müssen – ganz so wie Nevzat Tandogan, in den 40er-Jahren Gouverneur von Ankara und Prototyp des kemalistischen Bürokraten, es einst so wunderbar formuliert hatte: „Falls der Nationalismus gebraucht wird, kümmern wir uns darum; falls der Kommunismus gebraucht wird, werden immer noch wir ihn einführen.”

Doch derzeit deutet alles darauf hin, dass es mit dieser historischen Vormachtstellung des Militärs vorbei ist. Denn Recep Tayip Erdogan hat sich vorgenommen, sie ein für alle Mal zu brechen – und den gesamten Staatsapparat und insbesondere die Sicherheitskräfte bis in die feinste Kapillare umzugestalten. Das Ziel: ihm und seiner AKP treu ergebene Beamte und Behörden – und am Ende die Errichtung des faktischen Ein-Mann-Regimes.

Deutlicher lässt sich die Wachablösung kaum ausdrücken

Ein paar Tage nach dem gescheiterten Putsch sind die Fassaden aller Kommandanturen mit haushohen Nationalfahnen geschmückt, an einer Stelle mitten auf der Kreuzung liegen ein paar rote Rosen auf dem Boden. Am Sitz des Generalstabs lieferten sich putschistische Einheiten Kämpfe mit loyalen Truppen und gingen rücksichtlos gegen Zivilisten vor. Anders als am Parlamentsgebäude, an dem Polizeipräsidium der Hauptstadt oder der Zentrale des Geheimdienstes MIT sind hier von außen keine Spuren von Kampfhandlungen zu erkennen.

Und doch sieht man schnell, was sich verändert hat: Zwar bewachen weiterhin Soldaten den Eingang. Aber das Kommando führen zwei Angehörige der Sondereinheiten der Polizei. Deutlicher lässt sich die Wachablösung kaum ausdrücken: Der Eingang zum Hauptquartier der Armeeführung wird nicht mehr von der Armee kontrolliert, sondern von der Polizei.

Deren Sonderheiten (Polis Özel Harekat) wurden 1983 als Antiterroreinheit gegründet und seit Mitte der 90er-Jahre unter Innenminister Mehmet Agar zur paramilitärischen Truppe ausgebaut. Bei der Niederschlagung des Putsches kämpfte diese Truppe an vorderster Front, gemeinsam mit der Bereitschaftspolizei (Çevik Kuvvet). Einheiten des Heeres hingegen waren in der Putschnacht so gut wie gar nicht auf der Straße. Nicht aufseiten der Putschisten, bei denen größtenteils Einheiten der Luftwaffe, der Gendarmerie und den Sonderkommandos beteiligt waren, und nicht aufseiten der loyalen Truppen, die fast ausschließlich aus Polizei bestanden. Zu groß war das Misstrauen, sodass Erdogan und die Regierung darauf verzichteten, das Heer an der Niederschlagung des Aufstands zu beteiligen.

Das ist eines der Details der Putschnacht, das in keiner öffentlichen Erklärung auftaucht, von den AKP-Politikern aber unter vier Augen eingeräumt wird. Dann sprechen sie auch davon, dass sie nicht ganz der offiziellen Darstellung folgen, wonach der Putschversuch allein Sache der Gülen-Bewegung gewesen sei und alle bislang festgenommenen 7423 Offiziere und Soldaten – darunter 162 Generäle und Admiräle, 45 Prozent der gesamten türkischen Generalität – Gülenisten seien.

Erdogan wird die Armee dauerhaft zugunsten der Polizei schwächen

Die mit knapp 340.000 Mann zweitstärksten Landstreitkräfte der Nato und fünfstärksten der Welt verbrachten die Putschnacht jedenfalls größtenteils in den Kasernen. Als Erdogan am Morgen nach dem Putsch im VIP-Bereich des Istanbuler Flughafens einen triumphalen Auftritt hatte, wurde er von Sondereinheiten der Polizei beschützt. Seine Leibgarde oder andere Angehörige des Heeres waren nicht zu sehen.

Schon jetzt erfüllen diese Sondereinheiten nicht bloß polizeiliche Aufgaben. Sie werden auch für militärische Operationen gegen die PKK eingesetzt. Zu ihrem Arsenal gehören Panzer und andere schwere Waffen. Einzig Lufteinheiten hatten sie bislang nicht. Doch das dürfte sich ändern. Erdogan wird die Armee dauerhaft zugunsten der Polizei schwächen – wie einst Saddam Hussein, der aus Angst vor einem Coup die regulären Truppen zugunsten der ihm ergebenen Revolutionsgarden schwächte.

Denn Erdogan weiß: Die Sache hätte anders ausgehen können. Hätte sich in den ersten Stunden ein Erfolg der Putschisten abgezeichnet, hätten sich ihnen vermutlich viel mehr Einheiten angeschlossen. Und wären die Putschisten erfolgreich gewesen, wäre die Verurteilung des Coups kaum so einhellig ausgefallen, wie die fahnengeschmückten Inserate von Unternehmen und Verbänden aller Art in den Tageszeitungen es jetzt erscheinen lassen.

Um davon einen Eindruck zu bekommen, muss man vom Regierungsviertel nicht weit fahren. Man darf sich nur nicht nach Norden Richtung Kizilay-Platz orientieren, wo seit der Putschnacht Abend für Abend Erdogan-Anhänger dessen Aufruf folgend „Demokratie-Wachen” halten. Stattdessen muss man in den Süden, nach Dikmen.

Vor allem die Jüngeren wollen nur noch weg

Die meisten Bewohner von Dikmen sind Aleviten: säkulare Gegner von Erdogan und treue Wähler der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, der Partei Atatürks. Nirgends in der Türkei ist die Erinnerung an das Pogrom von Sivas, als 1993 ein islamistischer Mob ein Kulturfestival angriff und 33 Besucher tötete, frischer als hier. In Dikmen hat man nicht vergessen, dass zahlreiche der Rechtsanwälte, die die Täter verteidigten, später in der AKP Karriere machten.

Während ein paar Kilometer weiter die Erdogan-Anhänger mit „Allahu akbar”-Rufen ihren Triumph feiern, sitzen in einem Café im Stadtpark von Dikmen vielleicht 200 Menschen. Die Menge auf dem Kizilay-Platz finden die Leute hier beunruhigend: „Das sind dieselben Parolen, die sie in Sivas gerufen haben”, sagen sie. Vor allem die Jüngeren sehen jetzt nur noch eine Perspektive: Weg von hier, irgendwohin ins Ausland.

Wie sie die Putschnacht verbracht haben? „Ich kenne Leute, die in dem Moment, als im Staatssender die Erklärung der Putschisten verlesen wurde, eine Flasche Raki aufgemacht haben”, erzählt einer. Ein anderer ergänzt: „Irgendwann besannen sich die Leute aber darauf, dass es die Linken gewesen waren, die unter den letzten Machtergreifungen des Militärs am meisten litten, und dass ein Putsch prinzipiell falsch ist.” Nur aus purer Verzweiflung hätten sie für einen Moment Freude über das Ende von Erdogans Herrschaft empfunden.

Nicht nur unter Aleviten, auch in liberalen und kemalistischen Milieus dürfte es manchem ähnlich ergangenen sein – hin- und hergerissen zwischen der Ablehnung von Militärinterventionen einerseits und dem Gefühl von Erleichterung andererseits.

Seine islamistische Gesinnung hat Erdogan nie abgelegt

Dieses Gefühl werden die Türken nicht noch einmal erleben. Denn auch wenn alles hätte anders ausgehen können – von der Nacht vom 15. auf den 16. Juli wird dieses Bild zurückbleiben: Die Armee hat das Feuer auf das Volk eröffnet. Zu seiner alten Selbstgewissheit wird das türkische Militär nie wieder zurückfinden. Ansonsten aber ist alles offen. Viel deutet darauf hin, dass Erdogan die Gelegenheit nutzen will, um das zu vollenden, woran er ohnehin schon arbeitete – der Drangsalierung der Opposition, der Aufhebung der Gewaltenteilung, um am Ende eine islamistisch geprägte Diktatur zu installieren. Auf den Putsch folgt der Gegenputsch inklusive Ausnahmezustand und Säuberungen.

Stets hatte Erdogan Verschwörungen gewittert – ob bei den Gezi-Protesten oder den Korruptionsermittlungen. Nun wollte man ihn tatsächlich mit Panzern und Gewehren wegputschen. Seine Ankündigung, den Gezi-Park doch abzureißen – eine Kampfansage an die Adresse seiner Gegner –, lässt für die Zukunft nichts Gutes erahnen.

Seine islamistische Gesinnung hat Erdogan nie abgelegt; Demokratie bedeutet für ihn nicht ein Katalog von unveräußerlichen Rechten und nicht verhandelbaren Verfahrensregeln, sondern einzig die Herrschaft des Willens der Mehrheit. Schon in der Vergangenheit hat er jede Rücksichtslosigkeit gegen Minderheiten mit dem Verweis auf „seine 52 Prozent” rechtfertigt, nun hat er ein neues Narrativ: nicht mehr nur das des Präsidenten, den so und so viele gewählt haben, sondern jenes vom Präsidenten, für den 240 Menschen gestorben sind. Wer ihn jetzt noch aus dem Amt drängen möchte, der kann nur Putschist sein.

Anderseits hatte er auch immer eine pragmatische Seite – und den Mut, die eigene Anhängerschaft vor den Kopf zu stoßen. Das hat er bei den Friedensverhandlungen mit der PKK demonstriert und zuletzt Ende Juni bei der Aussöhnung mit Israel. Jahrelang hatte er Israel als „Terrorstaat” und die Toten des Gaza-Hilfsschiffs „Mavi Marmara” als „Märtyrer” gefeiert. Als aus einer AKP-nahen NGO, die seinerzeit die Flottille nach Gaza organisiert hatte, Kritik an der Vereinbarung ertönte, blaffte er zurück: „Habt ihr etwa uns gefragt, als ihr die Schiffe losgeschickt habt?”

Wenn Erdogans Gegner noch eine kleine Hoffnung haben, dann ist es das Vertrauen auf dessen Pragmatismus. Irgendwie wird der Präsident jetzt Zehntausende Stellen füllen müssen. Mag er beim Ausbau der Polizei zu seiner Ersatzarmee allein auf Gefolgsleute zurückgreifen können, ist es in anderen Bereichen schwieriger: Lehrer, Finanzbeamte, Juristen – diese Plätze allein aus der eigenen Anhängerschaft zu besetzen wird heikel. „Das ist die Türkei, hier kann jederzeit alles passieren, im Guten wie im Schlechten”, sagt einer, der die Hoffnung nicht aufgeben will. Eine starke Hoffnung ist das freilich nicht.

http://www.welt.de/politik/ausland/article157248356/Erdogan-uebernimmt-einen-Trick-von-Saddam-Hussein.html