Ein Luzerner SVP-Richter hat wegen der Motion des Luzerner CVP-Nationalrats Leo Müller zum bäuerlichen Steuerprivileg prompt alle hängigen Beschwerdeverfahren sistiert. Der Entscheid löst Kritik aus.

«Fragen Sie das Gericht.» Das war die Botschaft des Luzerner CVP-Nationalrats Leo Müller an den grünliberalen Martin Bäumle (Zürich) während der Debatte im April zur umstrittenen Wiedereinführung der privilegierten Besteuerung von Bauern, die Bauland besitzen. Der frühere Landwirt und Anwalt Müller hatte 2012 eine entsprechende Motion eingereicht, nachdem das Bundesgericht das Steuerprivileg Ende 2011 für Baulandbauern aberkannt hatte. «Finden Sie es nicht grenzwertig», hatte Bäumle nun seinen Kollegen gefragt, «dass Sie in Ihrem Kanton einen Entscheid des Bundesgerichtes nicht umsetzen mit der Begründung, dass Sie im Parlament eine Motion eingereicht hätten?»

Gewagte Einschätzungen

Eine Anfrage beim Gericht zeigt: Tatsächlich hat ein Luzerner Einzelrichter gegen den Willen der Steuerverwaltung verfügt, alle diesbezüglichen Beschwerdeverfahren vor Gericht zu sistieren. In der Verfügung vom 6. Januar 2015, die das Gericht in anonymisierter Form der NZZ nach anfänglichem Zögern zur Verfügung gestellt hat, begründet der Richter Patrick M. Müller die Sistierung mit der Motion seines Namensvetters.

Richter Müller schreibt: «Da sowohl der National- als auch der Ständerat der Motion zugestimmt haben, muss sich der Bundesrat mit einem entsprechenden Gesetzesentwurf befassen und eine Rückkehr zur alten Praxis auf Gesetzesstufe vorschlagen.» Unklar bleibe einzig die detaillierte Ausgestaltung des Gesetzesentwurfs. «Eine rückwirkende Gesetzesänderung scheint jedoch», glaubt der Richter, «mit Blick auf den Text der Motion und unter dem Gesichtswinkel der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen als wahrscheinlich.» Richter Müller berücksichtigt überdies ein Postulat auf kantonaler Ebene des CVP-Politikers und Landwirts Raphael Kottmann; dies hätten die Beschwerdeführer «zu Recht geltend gemacht». Gemäss dem Postulat sei der Regierungsrat «beauftragt, die Steuerveranlagungen betreffend Grundstücke, die zufolge des Bundesgerichtsurteils neu der Einkommenssteuer unterlägen, solange zu sistieren, bis auf Bundesebene Klarheit hinsichtlich der Rechtslage geschaffen sei». Erneut folgt eine Einschätzung des Richters: «Der von der Dienststelle Steuern befürchtete Veranlagungsstopp dürfte damit unabhängig von einer Sistierung des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens zum Tragen kommen.»

Die Einschätzungen Müllers erwiesen sich als gewagt. Der Bundesrat hat eine Rückwirkung in seiner Botschaft zum Gesetzesentwurf für unzulässig erachtet. Zwar wurde sie im April von der bürgerlichen Mehrheit im Nationalrat wieder in die Vorlage eingefügt; die Gesetzesrevision ist allerdings höchst umstritten, und es ist im Moment fraglich, ob sie den Ständerat überlebt – nicht zuletzt deshalb, weil 20 der 26 Kantone, notabene auch Luzern, die Wiedereinführung des Steuerprivilegs ablehnen. Selbst bauernnahe Kreise zweifeln inzwischen daran, ob es richtig ist, auf diesem Privileg zu beharren. Die ständerätliche Kommission hat nun vorerst «vertiefte Abklärungen» verlangt.

Und das Postulat? Der Regierungsrat beantwortete es just am 6. Januar 2015 abschlägig: «Für eine Sistierung entsprechender Veranlagungen besteht nach geltendem Recht keine Veranlassung.» Und: Die Rechtslage auf Bundesebene sei im Wesentlichen geklärt. Diese Ansicht teilen Steuerverwaltungen und Rekursinstanzen anderer Kantone wie etwa Thurgau und Aargau (vgl. Kasten). Auch die luzernische Steuerverwaltung war gegen die Sistierung; sie hat nach der richterlichen Verfügung aber ihrerseits die Verfahren sistiert, weil sie es nicht als sinnvoll erachtete, solche Fälle zu behandeln, nur damit sie sich danach beim Gericht aufstauen. Laut der Eidgenössischen Steuerverwaltung ist der Kanton Luzern der einzige Kanton, der solche Verfahren «offiziell» sistiert hat.

Richter wehrt Kritik ab

Der richterliche Entscheid stösst auch bei Politikern auf Kritik. «Wenn jeder Richter in diesem Land Urteile sistieren würde, weil eine Motion überwiesen ist, die eventuell zu einem Entwurf einer Gesetzesrevision führt, dann kämen wir nirgendwohin», findet SP-Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo (Luzern). Es sei «höchst problematisch», pflichtet ihr der grüne Luzerner Nationalrat Louis Schelbert bei, «wenn bereits ein Vorstoss solche Wirkung entfaltet». CVP-Nationalrätin Andrea Gmür hatte sich vor einem Jahr schon als Luzerner Kantonsrätin gegen die Sistierung gewehrt: «Grundsätzlich sei sie davon ausgegangen», sagte sie damals gemäss Ratsprotokoll, «dass ein Gericht aufgrund der aktuellen Gesetzgebung entscheide und nicht aufgrund eines Gesetzes, das dann allenfalls einmal in Kraft treten werde.»

Richter Müller sieht dies anders. Es entspreche der Praxis des Gerichts, sagte er auf Anfrage, dass Verfahren sistiert würden, wenn ein Gesetzgebungsverfahren hängig sei, dessen Folgen man in einem Urteil Rechnung tragen müsste. Dies nicht zuletzt aus prozessökonomischen Gründen. Dass zum Zeitpunkt seiner Verfügung der Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens noch völlig offen war, lässt er als Einwand nicht gelten. Es genüge die Unwägbarkeit des Ausgangs.

Patrick Müller kennt Nationalrat Leo Müller zwar, sie sind aber nicht miteinander verwandt und gehören auch nicht der gleichen Partei an: Richter Müller ist SVP-Mitglied. Wie die CVP verteidigt auch die SVP das bäuerliche Steuerprivileg. Richter Müller betont ausserdem, dass er die Sistierung von sich aus und nicht auf Antrag der Beschwerdeführer initiiert hatte. Nationalrat Müller ist hingegen als Rechtsvertreter eines der bäuerlichen Beschwerdeführer direkt vom Sistierungsentscheid betroffen.

Vollzugs-Salat

Eine willkürliche Umfrage bei kantonalen Steuerbehörden zeigt, dass das Bundesgerichtsurteil vom Dezember 2011 zum bäuerlichen Steuerprivileg höchst unterschiedlich umgesetzt wird. Konsequent nach den neuen Regeln veranlagt der Thurgau. Die Rechtslage sei eindeutig, heisst es dort. Gleiches gilt im Kanton Aargau, wo das Verwaltungsgericht zudem das Sistierungsgesuch eines Beschwerdeführers explizit abgewiesen hat – ein Entscheid, der im Juni 2015 auch vom Bundesgericht gestützt wurde. Derweil haben Bern und St. Gallen mit Verweis auf die Beratungen im Parlament entsprechende Veranlagungsverfahren mittlerweile ausgesetzt. Schwyz wiederum veranlagt zwar, sistiert aber Einspracheverfahren.

http://www.nzz.ch/schweiz/steuerprivileg-fuer-baulandbauern-eine-motion-mit-kraftvoller-wirkung-ld.82569