Die Nervosität ist groß. Als am Donnerstag das Bundesinnenministerium mehrere Abgeordnete zu einer Telefonkonferenz zusammenschalten ließ, sorgte nach Angaben von Teilnehmern ein Satz für gewisse Aufregung: „Maßnahmen gegen ihn liefen bis zum Schluss.“
Es ging dabei um Anis Amri. Jenen Tunesier, der am 19. Dezember mit einem Lastwagen das erste große islamistische Attentat in Deutschland verübt hatte. Elf Menschen starben auf dem Weihnachtsmarkt am Fuße der Berliner Gedächtniskirche. Zuvor hatte Amri den Lkw-Fahrer getötet. Und nun stellte sich in der Telefonschalte plötzlich die Frage, ob die deutschen Sicherheitsbehörden dem Islamisten bis zum Anschlag – oder sogar bis zu seinem Tod Tage später auf den Fersen waren.
Eines ist im Fall Amri schon heute klar: Der Attentäter konnte wie so viele andere kriminelle Migranten durch Gesetzeslücken schlüpfen, die jetzt schnell geschlossen werden sollen. Gleichzeitig offenbart sich, dass Regeln, die in Deutschland und Europa eigentlich gelten sollen, nicht eingehalten wurden.
Die richtigen Schlüsse ziehen
In den kommenden Tagen soll es einen Zwischenbericht aller beteiligten Behörden über die Vorgänge geben. Weiterhin stellt sich vor allem eine Frage: Warum konnte die Tat nicht verhindert werden, obwohl Amri den Behörden als sogenannter Gefährder bekannt war? Das große Ziel hinter der Aufarbeitung lautet: kühlen Kopf bewahren. Die richtigen Schlüsse ziehen. Damit so etwas möglichst nicht noch einmal passiert. Nur: Was ist da eigentlich passiert?
Die Aufregung in der Telefonkonferenz am Donnerstag hatte sich bei den meisten Teilnehmern jedenfalls schnell gelegt. Im Grunde sei das nichts Neues, versicherte man den Parlamentariern. Die Berliner Behörden hätten Amri bis September observiert – doch Beweise für konkrete Anschlagspläne blieben aus. Als Gefährder, der jederzeit ein Attentat begehen könnte, wurde er allerdings weiterhin eingestuft. Und damit waren schließlich „Maßnahmen bis zum Schluss“ verbunden. Dabei handelte es sich aber nicht um solche, für die eine richterliche Anordnung notwendig ist – etwa die Überwachung der Kommunikation. Sollte Amri dagegen etwa in eine Polizeikontrolle geraten, würde man diese Information auswerten, ohne ihm davon zu erzählen.
Dass sich an der Sicherheitslage in Deutschland nach dem Anschlag nichts verändert hat, das machte am Donnerstag der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, deutlich. Bei einer Klausursitzung der Bundestagsabgeordneten sagte er, dass die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nach wie vor die größten Sorgen bereite. „Die letzten zwei Jahre waren ein Belastungstest für die Sicherheitsbehörden“, erklärte Münch nach Angaben aus Teilnehmerkreisen.
Probleme mit der Abschiebehaft
Im konkreten Fall Amri müssen die Behörden nicht nur die Frage beantworten, warum er trotz der Einstufung als Gefährder nicht aufgehalten werden konnte und warum man irgendwann seine Spur verloren haben will. Vor allem bleibt das Problem, dass er nicht in Abschiebehaft saß, obwohl sein Asylantrag abgelehnt war, er Prügeleien anzettelte, mehrere Identitäten benutzte und auch noch mit Drogen dealte.
Im Nachhinein ist klar, dass die Behörden es mit der Abschiebehaft wenigstens hätten versuchen sollen. Aber: Die Erfahrung zeigt, dass Richter behutsam damit sind, eine solche Maßnahme zu erlauben. Dabei geht es vor allem um den Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes. Dieser kommt in Betracht, wenn von einem Ausländer eine besondere Gefahr für die Bundesrepublik oder eine terroristische Gefahr ausgeht.
Anders aber, als mancherorts zu lesen war, ist die Anwendung alles andere als üblich: Der Bund zum Beispiel hat es in den vergangenen Jahren nicht getan. Und auch jene Länder, in denen die meisten Gefährder gemeldet sind, haben auf diese „Abschiebungsanordnung“ in keinem Fall zurückgegriffen: weder Bayern noch Baden-Württemberg, Berlin oder Nordrhein-Westfalen, wie die Innenministerien der „Welt“ erklärten. Hintergrund seien die „engen Voraussetzungen“.
Auch mit Blick auf Amri wurde von den Behörden im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) konkret darüber diskutiert, ob dieser Paragraf herangezogen werden soll, zuletzt im Juli. Man kam aber zu dem Schluss, dass „keine akute Gefährdungslage in gerichtsverwertbarer Form“ vorliege. Man hoffte darauf, dass Tunesien ihn bald zurücknehmen würde.
Herausforderung für die Behörden
Gerade weil die Hürden so hoch sind, hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) bereits im Herbst einen Gesetzentwurf vorgeschlagen, mit dem Gefährder leichter inhaftiert werden sollen. Die SPD hat mittlerweile eingelenkt – auch das ist eine Reaktion auf den Anschlag in der Hauptstadt.
Die Politik will jetzt so gut es geht verhindern, dass noch einmal ausgerechnet ein Gefährder zuschlagen kann. Und wie die Zahlen zeigen, geht es dabei oftmals darum, wie der Staat mit abgelehnten Asylbewerbern umgehen soll. Wie das Innenministerium mitteilte, besitzen von den rund 550 in Deutschland registrierten Gefährdern 224 Personen ausschließlich eine ausländische Staatsangehörigkeit.
Ein vollziehbar abgelehnter Asylantrag liegt demnach im Fall von 62 Gefährdern vor. Davon besitzen 14 Personen eine Duldung, in keinem Fall liegt eine Ausweisungsverfügung vor. 162 Gefährder wiederum sind Ausländer ohne Asylbezug. 16 dieser Personen besitzen eine Duldung und vier davon eine Ausweisungsverfügung. 33 Gefährder haben kein Aufenthaltsrecht, beziehungsweise es ist erloschen oder wurde widerrufen.
Diese Zahlen zeigen, wie groß die Herausforderung für die Behörden ist, bereits die namentlich bekannten Gefährder so gut es geht zu kontrollieren. Wie BKA-Chef Münch vor den SPD-Abgeordneten berichtete, gibt es in Deutschland bereits rund 750 Verfahren mit Islamismusbezug, dabei geht es um etwa 1000 Beschuldigte. Nicht erst seit den Anschlägen, sondern auch schon zuvor habe man von Schwachstellen im Sicherheitsbereich gewusst – und diese auch so weit wie möglich ausgebessert. Das reiche aber noch nicht.
Münch wies dabei in besonderer Weise auf die europäische Ebene hin. So forderte er vor allem eine bessere Zusammenarbeit und Koordination. Die nationalen Behörden müssten ihre Informationen zudem besser in gemeinsame Datenbanken wie das Schengener Informationssystem (SIS) mit seinen Fahndungshinweisen oder die Asyl-Datenbank Eurodac mit ihren Fingerabdruck-Informationen einpflegen. Das Bundesinnenministerium erklärte der „Welt“ zudem auf Anfrage, dass eine EU-einheitliche Definition des Gefährder-Begriffs weiterhin „grundsätzlich wünschenswert“ wäre.
Im Fall Amri werden sich am Montag die Mitglieder des geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremiums zusammensetzen. Sie erwarten dann auch mehr Informationen über ein Detail, das in der Telefonkonferenz am Donnerstag dann doch für viele neu war. Noch im November hatte sich die deutsche Seite dem Vernehmen nach bei einem ausländischen Nachrichtendienst nach Amri erkundigt. Einen Monat später raste er dann auf den Berliner Weihnachtsmarkt.