Es war ein eindrucksvoller Moment, als Brita Hagi Hasan auf einmal dort ist, wohin er niemals zu kommen glaubte. Der Bürgermeister von Ost-Aleppo war nach Brüssel gereist, um vor dem Gitter des Ratsgebäudes Justus Lipsius zu protestieren. Wenigstens in die Kameras wollte er seine Wut schreien gegen das Unrecht und die Gewalt in seiner Stadt.
Um kurz vor 13 Uhr steht Hasan dann plötzlich in einem großen, grauen Sitzungssaal. Dort tagen die EU-Staats- und Regierungschefs. EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte den Bürgermeister spontan eingeladen. Hasan spricht von Leid, Erschießungen und Bomben in Ost-Aleppo.
„Stellen sie sich vor, es wären Ihre Verwandten“, sagt er und schaut den Anwesenden am langen Konferenztisch direkt ins Gesicht. „Stellen sie sich vor, es wären Ihre Kinder.“ Mehr als 50.000 Zivilisten leben derzeit trotz der Evakuierungen am Donnerstag noch in der Stadt. „Sie sind kurz davor massakriert zu werden“, ruft Hasan in die Runde der mächtigsten Führer Europas.
Es sind Worte, die aus dem Herzen kommen. Ein Aufschrei in der sterilen Welt der Brüsseler Gipfeldiplomatie.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist aufgewühlt. Sie ist immer noch bewegt, als sie gegen 23.30 Uhr vor die Presse tritt. „Dieser Teil der Diskussion war sehr deprimierend, weil wir alle etwas sehen im 21. Jahrhundert, was zum Schämen ist, was das Herz bricht, was zeigt, dass wir politisch nicht so handeln konnten wie wir gerne handeln würden.“
Emotionen, Depressionen und viele, viele Phrasen
Stundenlang berieten die Europäer über die Gräueltaten in Syrien. Am Ende stand ein Communique, das die alten Forderungen wie eine nimmermüde Gebetsmühle abspulte: Man verurteile „in aller Schärfe“ die anhaltenden Angriffe auf Aleppo durch das syrische Regime und seine Alliierten wie Russland. Und dann der stärkste Satz, der in Wahrheit eine Worthülse ist, die den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und den russischen Machthaber Wladimir Putin nicht beeindrucken dürfte: „Die EU erwägt alle verfügbaren Optionen“. Damit könnten theoretisch auch neue Sanktionen gemeint sein. In der Praxis jedoch ist das unrealistisch – es wurde nicht einmal darüber beraten.
Dieses elfstündige Treffen war ein Gipfel der Hilflosigkeit. Eine bewegte Kanzlerin Merkel, ein deprimierter französischer Staatspräsident Francois Hollande („Wozu sollte dann ein Europa der 28 noch gut sein?“ ) und ein Gipfel-Präsident Tusk, der Phrasen drescht („Uns ist das Leiden nicht egal“) – das war es.
Die Frage ist, was Europa in dieser Situation in Syrien überhaupt tun kann Die Antwort lautet: nichts. Dies ist nicht die Stunde der Europäer. Sie haben es vor Jahren versäumt, den Konflikt zu beeinflussen, sie haben Assad unterschätzt und viel zu wenig Druck auf die Oppositionsparteien ausgeübt, an den Verhandlungstisch zu kommen. In der Zukunft kann Europa beim Wiederaufbau des zerstörten Landes helfen, neun Milliarden Euro an Investitionen sind vorgesehen. Aber jetzt? Die Stimme der Europäer spielt jetzt in Syrien keine Rolle. Neben Assad haben Russland und der Iran das Sagen, und dann, ein bisschen vielleicht, auch Washington.
Da helfen keine Gipfelbeschlüsse
Also machen die Europäer das, was sie seit Monaten tun: humanitäre Hilfe anbieten. Aber was nützt das, wenn immer schärfer geschossen wird und die Hilfe nicht ankommt? Kanzlerin Merkel: „Das Schlimme ist ja, dass wir alle bereit sind, Geld zu geben, dass das Internationale Rote Kreuz tagelang in West-Aleppo gestanden hat und man trotzdem zusehen musste, wie schlimmste Ermordungen, Erschießungen und Bombardierungen in der Nachbarschaft von Ost-Aleppo stattfanden.“
Da helfen auch keine neuen Gipfelbeschlüsse, im EU-Jargon Schlussfolgerungen genannt. „Es ist frustrierend zu sehen, dass sich diejenigen, die mit Waffen Fakten schaffen, von unseren Schlussfolgerungen nicht sehr beeindrucken lassen“, sagte Österreichs Bundeskanzler Christian Kern. Europa sei im Syrien-Konflikt „nicht so effektiv, wie wir es gerne wäre“, sekundierte Tusk.
Dennoch gehören Schlussfolgerungen zum Gipfel-Ritual. Beschlüsse müssen sein. Und so verurteilten die „Chefs“ nicht nur die Angriffe, sondern forderten auch, dass die Kriegsparteien sofortige Hilfe für die Menschen in Aleppo und den Zugang internationaler Beobachter ermöglichen müssten.
Merkel weiß nicht mehr weiter
Merkel warf Syriens Verbündeten Russland und Iran zudem eine Mitschuld an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung vor. Diese müssten geahndet werden, verlangte die Kanzlerin. Auch die britische Regierungschefin Theresa May gab sich kämpferisch: „Wir müssen sicher stellen, dass jene, die für diese Gräueltaten verantwortlich sind, zur Verantwortung gezogen werden“. Es sind Worte ohne Zähne. Niemand erwartet, dass die politische Führung aus Russland oder Iran ernsthaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wird. Aber fordern kann man das ja mal. Moral muss sein, wenn man schon machtlos ist.
Merkel ist an ihren Grenzen angelangt. Sie weiß nicht mehr weiter. „Wir haben alle festgestellt, dass wir viel weniger tun können, als wir gerne tun würde“, sagte sie resigniert. „Wir haben es mit einem Versagen der Handlungsfähigkeit des UN-Sicherheitsrats zu tun“, fügte sie hinzu. Damit zielt die Kanzlerin direkt auf Moskau. Ob ein Militäreinsatz helfen würde? Die Kanzlerin hatte daran Zweifel in dieser Nacht: „Ich denke nicht, dass die Antwort allein militärisch sein kann“. Wichtiger sei es, die Vereinten Nationalen wieder handlungsfähig zu machen: „Für mich stellt sich das viel umfassender dar, aber ich habe dafür heute keine abschließende Antwort.“
Immerhin, einen wichtigen Beschluss gab es dann doch noch in Brüssel. Die EU verlängerte wegen der Ukraine-Krise ihre umfassenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland bis Ende Juli 2017. Polen und Großbritannien hatten hatten nach „Welt“-Informationen eine Verlängerung von einem Jahr gefordert – nicht zuletzt, weil unsicher zu sein scheint, ob Amerika unter dem neuen Präsidenten Donald Trump wie bisher an den Strafmaßnahmen festhalten wird. Die Mehrheit der EU-Staaten lehnte dies ab. Ein Grund war, dass man dann aus formalen Gründen mehrere Wochen lang bis zu einem neuen Beschluss möglicherweise gar keine Sanktionen gegen Moskau mehr gehabt hätte.
Der Türkei stellte die EU einen gemeinsamen Gipfel in Aussicht. Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli und der anschließenden Verhaftungswelle sind die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Land am Bosporus angespannt. Merkel machte aber klar, dass „im Moment keine neuen Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet werden“. Noch deutlicher wurde Österreichs Regierungschef Kern: „Wir sind der Auffassung, dass ein EU-Beitritt der Türkei nicht infrage kommt“.
https://www.welt.de/politik/ausland/article160342402/Ein-Aufschrei-in-der-sterilen-Welt-der-Gipfeldiplomatie.html