Die Schweiz ist ein Smartphone-Land. Trotzdem – oder gerade deswegen – üben sich immer mehr Menschen in digitaler Enthaltsamkeit. Ihre Gründe sind unterschiedlich.

Digitale Enthaltsamkeit

Vier Millionen Personen in der Schweiz nutzen mobile Internetverbindungen, etwa mit dem Smartphone. (Symbolbild) (Bild: Carolyn Kaster / Keystone)

Es ist ein bekanntes Phänomen in grossen Städten: Morgens strömen die Pendler aus den Schächten der Bahnhöfe, in grosser Zahl und fast immer mit einem technischen Gerät in der Hand, vor dem Gesicht oder am Ohr. In der Jugendsprache heissen Menschen, die wie hypnotisiert auf den Bildschirm starren, «Smombies» (eine Wortkomposition aus Smartphone und Zombie). Seit das Internet in den neunziger Jahren seinen Siegeszug in der Schweiz angetreten hat, ist die Nutzung dauernd gestiegen. Rund 83 Prozent der Bevölkerung surfen laut Bundesamt für Statistik regelmässig durchs Netz. Davon benutzten rund vier Millionen Menschen auch eine mobile Verbindung. Weltweit betrachtet sind hingegen gemäss einem Bericht der Weltbank vom letzten Donnerstag noch immer mehr als 60 Prozent der Bevölkerung offline. Die digitale Kluft wachse, so warnen die Autoren der Studie. Dennoch: Die Digitalisierung wird die Gesellschaft als Ganzes in Zukunft wie kein anderer Megatrend prägen.

Drohendes Schattenzeitalter . . .

Der Schweizer Ökonom Joël Luc Cachelin hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben. Als Motor der digitalen Entwicklung macht er die Sehnsucht nach einem einfacheren und intensiven Leben aus: Man müsse etwa weniger auswendig lernen, wisse, wann der Zug fahre, und habe stets ein riesiges Angebot an Musik. Je weiter die Entwicklung fortschreite, desto grösser werde aber der digitale Schatten, welchen wir hinterlassen. Dies habe auf sozialer und ökologischer Ebene negative Folgen. Dagegen rege sich Widerstand in Form von getrennten Verbindungen vom World Wide Web.

«Die Digitalisierung stösst auch jenen sauer auf, deren Status, Einkommen, Macht oder Besitz gefährdet ist», schreibt Cachelin in seinem neusten Buch «Offliner». Das Internet provoziere eine nächste industrielle Revolution und bedrohe Arbeitsplätze. Menschen befürchten, durch Roboter ersetzt zu werden. Betroffene meiden deshalb das Internet und benutzen keine Apps zur «Erleichterung» des Alltags. Der Trend, den Stecker zu ziehen, kommt alle paar Jahre wieder. Schon 2009 warnte der verstorbene «FAZ»-Herausgeber Frank Schirrmacher im Buch «Payback» vor den negativen Folgen des Computerzeitalters und suchte Heilung von der «digitalen Droge». Der Bestsellerautor diagnostizierte einen totalen Kontrollverlust. Heute, bald sieben Jahre später, sind die Fragen aktueller denn je. Trendforscher Cachelin schreibt im Browser-Buch «Schattenzeitalter»: «Mit dem Vorstoss des Internets in alle Lebensbereiche nehmen Desinformation, Überwachung und Manipulation zu.»

Eine Avantgarde hat begonnen, ihren digitalen Konsum und dessen Auswirkungen kritisch zu hinterfragen. Dabei ist die Gruppe heterogen, und die Motive unterscheiden sich stark. Während die einen mit einer sich immer schneller drehenden Welt überfordert sind (die Entschleuniger), stemmen sich andere gegen den dauernden Update-Zwang von Programmen und technischen Geräten (die Nachhaltigen), und für nochmals andere war früher alles besser (die Romantiker). Cachelin unterscheidet insgesamt 16 Typen von Offlinern, welche er in wirtschaftliche, politische, soziale und technologische Fraktionen unterteilt. Die Palette der Motive für einen temporären oder dauerhaften Ausstieg aus dem Netz ist breit: vom persönlichen Wohlbefinden bis zum Versuch, wirtschaftliche Monopole zu brechen oder sich staatlicher Überwachung zu entziehen.

. . . contra analoge Freiheit?

Nicht zu unterschätzen ist der Lifestyle-Aspekt der digitalen Askese. Der dazugehörige Trend kommt direkt aus dem Herzen der Computerindustrie in Silicon Valley. Mindfulness, also Achtsamkeit, heisst das Zauberwort. Gemeint ist eine Adaption der ursprünglich buddhistischen Lehre. In der Meditation soll der Moment erfahren werden. Eng verbunden damit ist auch die Digital-Detox-Bewegung. Ihre Anhänger entschlacken den Online-Konsum zur geistigen Entgiftung. Meist vermischen sich verschiedene Motivationen zu einem bewussten Lebensstil.

Seit einiger Zeit haben die digitalen Einsiedler ein eigenes Magazin. «Quicumque» widmet sich Themen rund um Selbstversorgung und autarkes Leben. «Wir mischen Aspekte des modernen Lebens mit Altem und Bewährtem», sagt Chefredaktorin Axenia Schäfer. Innovationsfremd sei man aber nicht. So zeige das Magazin etwa, wie man unabhängig von öffentlicher Stromversorgung sein könne. Gebündelt sei das erprobte Wissen in Papier, «damit endloses Surfen wegfällt».

Forrás: http://www.nzz.ch