Die Niederlande sind eine beneidenswerte Nation – sogar aus deutscher Sicht. Das Land hat eine Arbeitslosenquote von 5,4 Prozent, ein Wirtschaftswachstum von über zwei Prozent und exportiert pro Kopf gesehen doppelt soviel wie die Bundesrepublik. Die Niederländer sind statistisch gesehen acht Prozent reicher als die Bundesbürger, haben die Deutschen sogar im Wettbewerbsranking des Weltwirtschaftsforums überholt und gelten als besser vorbereitet für die Digitalisierung. Sprich: Unser Nachbar ist das Vorzeigeland der Euro-Zone.
Wenn allerdings sogar dieses Vorzeigeland unglücklich mit seiner Gemeinschaftswährung ist, wäre das ein fatales Signal für den Währungsraum. Umso heikler ist daher, dass das Parlament es jetzt genau wissen will. Die Abgeordneten haben eine Studie zur Zukunft des Euro in Auftrag gegeben. Diese soll mit offenem Ergebnis prüfen, inwiefern die Gemeinschaftswährung vorteilhaft für das Land ist und gegebenenfalls einen Austritt empfehlen.
Der Zeitpunkt ist kritisch. In gut zwei Wochen wählen die Niederländer ein neues Parlament. Zwar werden die Ergebnisse der Euro-Studie erst nach der Wahl veröffentlicht. Aber die Diskussion hat bereits begonnen und dürfte den Euro-kritischen Kräften Schützenhilfe liefern.
Ausgang der Wahl könnte Europas Stabilität gefährden
Wie in Deutschland ist auch in den Niederlanden die Rettungspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht sonderlich beliebt. Wegen der niedrigen Zinsen müssen die Niederländer erste Abstriche an ihrer Betriebsrente hinnehmen. Die Betriebsrente, in die sowohl Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen, ist im Nachbarland anders als hierzulande von großer Bedeutung und daher auch ein Wahlkampfthema.
Seit Wochen liegt die PVV, die Partei des Populisten Geert Wilders vorn. Nach aktuellem Stand kann er mit rund 26 der 150 Sitze rechnen und damit mit mehr als die VVD des Regierungschefs Mark Rutte. Auch wenn Wilders damit trotzdem keine Regierungsmehrheit im Parlament erreichen wird, könnte er das Parteiengefüge kräftig durcheinanderwirbeln.
„Eine schwache Koalition der etablierten Kräfte mag auf dem Papier einen Kurs pro EU verfolgen. In der Realität müsste ein solches Bündnis aber EU-kritisch agieren, um den Populisten keinen weiteren Aufwind zu verschaffen“, sagt Mark Wall, Chefökonom für Europa bei der Deutschen Bank. Das könnte auch die Stabilität der Euro-Zone gefährden.
„Ein Alarmsignal“
Die Märkte sind bereits nervös. Während die Niederlande über Jahre als Garant für Stabilität galt, hat sich das nun schlagartig geändert. Das offenbart der sogenannte Nexit-Index des Analysehauses Sentix. Demzufolge taxieren Investoren die Wahrscheinlichkeit für ein Ausscheren der Niederlande aus dem Euro auf nunmehr 4,25 Prozent. Das liegt deutlich über dem langjährigen Durchschnitt von unter einem Prozent. Schließlich galt die Niederlande als Musterschüler der Euro-Zone, den quasi nichts aus der Ruhe bringen konnte.
„Ich verstehe nicht viel von der konkreten Politik in den Niederlanden. Aber wenn jetzt eines der tolerantesten Völker der Welt die Geduld mit der Konstruktion von Europa und dem Euro verliert, dann ist das ein Alarmsignal“, sagt Charles Gave, Stratege beim Analysehaus GK Research. Ihn erinnert die Situation in Holland an Großbritannien im vergangenen Sommer vor dem Brexit-Votum. „Die Menschen wollen ihre Souveränität in einem Punkt haben: nämlich darüber zu entscheiden, welche Flüchtlinge im Land bleiben dürfen und wer gehen muss.“
Tatsächlich ist das Thema Immigration eines der bestimmenden im Wahlkampf. Jeder dritte Niederländer hält es für zukunftsentscheidend. Fast hat es den Anschein, als würde die Wirtschaft zu rund laufen, als dass sich die Niederländer für den Lauf der Ökonomie interessieren würden.
Die Arbeitslosenquote ist so niedrig wie in keinem anderen Euro-Land von Estland einmal abgesehen. Das Wirtschaftswachstum beschleunigt sich kräftig. Das hängt vor allem mit dem boomenden Immobilienmarkt zusammen. Die Preise haben sich vom Absturz während der Finanzkrise erholt und notieren im Schnitt nur noch fünf Prozent unter dem Rekord aus dem Jahr 2008.
Menschen wollen die Kontrolle behalten
Für das ökonomische Wohlbefinden ist das wichtig. Schließlich besitzen zwei von drei Niederländern ein Eigenheim und haben sich dafür auch hoch verschuldet. Während der niederländische Staat zu den solidesten in der Euro-Zone gehört und mit einer Schuldenquote von gut 60 Prozent fast das Maastricht-Kriterium erreicht, ist das bei den Bürgern anders. Diese sind gemessen an der Wirtschaftsleistung mit 111 Prozent so hoch verschuldet wie kein anderes Volk in der Währungsgemeinschaft. Die Bundesbürger beispielsweise bringen es gerade mal auf eine private Schuldenquote von 53 Prozent, im Euro-Raum liegt der Schnitt bei 59 Prozent.
Auch bei einer anderen brisanten Zahl gehören die Niederlande zur europäischen Spitze, nämlich der Bevölkerungsdichte. 409 Einwohner leben durchschnittlich auf einem Quadratkilometer, hierzulande sind es gerade mal 232. Der Ausländeranteil ist mit 22 Prozent hoch. Das könnte Experten zufolge auch erklären, warum das Bedürfnis der Menschen so stark ausgebildet ist, bei der Einwanderung selbst die Kontrolle zu behalten und warum die EU derzeit ein so geringes Ansehen genießt.
„Es handelt sich weniger um eine Skepsis gegenüber dem Euro als vielmehr gegenüber der Europäischen Union“, beschreibt Maximilian Kunkel, Chefstratege für Deutschland bei UBS Wealth Management die Stimmungslage der Niederländer. Seine Abteilung definiert die Anlagestrategie für insgesamt 2,1 Billionen Dollar an globalem Vermögen und rechnet nicht mit einem Nexit.
Verschiedene Meinungsumfragen würden zeigen, dass die Menschen in Europa der Gemeinschaftswährung mehrheitlich positiv gegenüberstehen. „Wir haben uns nicht spezifisch gegen einen Euro-Zerfall abgesichert. Wir streuen unsere Vermögensallokation quer über den Globus und halten diese Art der Risikodiversifikation für ausreichend, um weiterhin regionale Risiken zu minimieren und globale Opportunitäten auszunutzen.“ In den globalen UBS-Portfolien ist Europa auf der Aktienseite daher auch „neutral“ gewichtet. Der Kontinent erlebe gerade einen ordentlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der Populismus verliere etwas an Momentum, sagt Kunkel.
Trotzdem schauen die Akteure nervös auf die Wahlen Mitte März. „Die Niederlande sind ein Trendsetter, was Populismus in Europa angeht“, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom bei der ING Diba.
https://www.welt.de/finanzen/article162437330/Die-Niederlaender-verlieren-die-Geduld-mit-Europa.html