Auf dem Papier liegt der Bundesregierung das Glück der Bürger am Herzen. Immerhin 238 Seiten umfasst der Regierungsbericht „Gut leben in Deutschland“, mit dem Angela Merkel im vergangenen Jahr dem Glück der Bürger auf die Sprünge helfen wollte.
Die Erkenntnisse sollten ursprünglich in einen ressortübergreifenden Aktionsplan eingehen und Einfluss auf die Tagespolitik haben. Passiert ist seitdem allerdings nicht viel. Angesichts von Wahlen, Trump und Brexit muss offensichtlich auch das Glück der Bürger zurückstecken.
Dabei hätte es die Politik relativ einfach, das Lebensgefühl der Deutschen zu verbessern. Das geht aus einer Studie des Frankfurter Thinktanks Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt (ZGF) hervor, die der „Welt“ exklusiv vorliegt. Demnach könnte die Bundesregierung mit einigen wenigen gezielten Maßnahmen die Lebensqualität in Deutschland signifikant steigern.
Vor allem beim Sicherheitsgefühl der Menschen, aber auch bei der Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums, bei der Verringerung von Armut oder bei der Wahlbeteiligung gibt es Nachholbedarf. Im internationalen Vergleich bewegt sich Deutschland auf diesen und weiteren Handlungsfeldern gerade einmal im Mittelfeld – dabei sind gerade diese Themen den Bürgern offenkundig besonders wichtig.
„Die aktuellen Wahlprogramme und auch der nächste Koalitionsvertrag müssten sich eigentlich viel intensiver mit dem befassen, was das Wahlvolk auch in Zukunft zufrieden macht. Dabei reicht es nicht, die Wünsche der Bürger nur abzufragen, stattdessen sollten daraus Prioritäten für künftiges Handeln abgeleitet werden“, konstatiert Ökonom Stefan Bergheim.
Wie glücklich sind die Deutschen wirklich?
Der frühere Deutschbanker und Gründer des ZGF hat schon während des Bürgerdialogs der Regierung vor zwei Jahren intensiv an der Ergründung der deutschen Lebenszufriedenheit mitgewirkt. Nun gehe es darum, die Erkenntnisse von damals in aktive Politik umzusetzen: „Gerade im Wahljahr wäre es wichtig, den Bürgern zu zeigen, dass die Politik die Sorgen und Wünsche der Bürger wirklich ernst nimmt.“
Besonders deutlich zeigt sich das beim Sicherheitsgefühl der Menschen. Zwar gilt Deutschland als eines der sichersten Länder der Welt: Pro 100.000 Einwohner stirbt rein statistisch hierzulande ein Mensch pro Jahr durch Mord. Doch solche objektiven Maße spiegeln das Sicherheitsgefühl der Menschen nur unzureichend.
Zieht man Umfragen wie etwa den Gallup World Poll zurate, zeigt sich: Nur knapp 75 Prozent der Deutschen fühlen sich sicher, wenn sie nachts allein durch die Straßen gehen. „In den führenden Ländern wie Norwegen sind es zehn Prozentpunkte mehr“, sagt Bergheim. „Diese Werte sollten für Deutschland ebenfalls erreichbar sein, zumal mangelndes Sicherheitsgefühl zu Rückzug und Abgrenzung führen kann und den Aufstieg von Populisten fördert.“
Eng damit verknüpft ist das Vertrauen in die Mitmenschen. In Dänemark, das in nahezu allen Glücksvergleichen besonders gut abschneidet, ist dieses Vertrauen stark ausgeprägt. Deutschland hingegen hat mit einem Wert von 5,5 auf einer Skala bis 10 der Studie zufolge „erhebliches Aufholpotenzial“.
In den entsprechenden Umfragen, die die Grundlage für den Europa-Vergleich bilden, spielen unterschiedliche Bildungsniveaus genauso eine Rolle wie die Zuwanderungsraten und die damit verbundene Angst vor Überfremdung. Das macht die politische Reaktion darauf aus Sicht des Experten kniffelig: „Vertrauen lässt sich schließlich nicht direkt per Gesetz anheben, sondern nur über eine große Zahl von Maßnahmen auf allen Ebenen. Wichtig ist, dass die Politik den Anstoß liefert und den Prozess auf allen Ebenen begleitet.“
Vorbild Island: Origineller Kampf gegen den Drogenkonsum
Sowohl beim Vertrauen als auch beim Sicherheitsgefühl gibt es regional dabei große Unterschiede. Während sich die Menschen in München, Münster und Konstanz offenbar besonders sicher fühlen, deuten Bergheim zufolge die Umfrageergebnisse für Berlin, Mannheim und Oberhausen auf „besonderen Handlungsbedarf“ hin.
„Um die Situation zu verbessern, sind Anstrengungen auf allen Ebenen, also Bund, Ländern, Gemeinden und innerhalb der Gesellschaft nötig“, sagt der Wissenschaftler. Die Rezepte seien lange bekannt: dazu zählten unter anderem mehr Geld für Gewaltprävention an den Schulen, eine gelungene Integration von Zuwanderern und eine Stärkung der Polizeikräfte vor Ort.
Mitunter seien auch ganz neue Wege nötig, sagt Bergheim und verweist auf das Beispiel Islands. Das Land hatte sich vor einigen Jahren vorgenommen, den Drogenkonsum unter Teenagern zu verringern – und dies unter anderem durch den Ausbau von Sportprogrammen, aber auch durch die Einführung einer Sperrstunde für Jugendliche durchgesetzt.
Das Beispiel zeigt damit auch, wie schwierig die Gratwanderung in Sachen Glück und Zufriedenheit sein kann: wie weit soll sich der Staat in das Glück der Bürger überhaupt einmischen, ohne Gefahr zu laufen, in eine Art Glücksdiktatur zu münden? „Die Grenzen sind fließend und hängen stark davon ab, was die Gesellschaft als Ganzes will – und was eben nicht“, sagt Bergheim.
Balanceakt zwischen Hilfe zur Selbsthilfe und Bevormundung
Deutlich wird das an einem weiteren zentralen Punkt, der Wahlbeteiligung. Deutschland liegt mit einer Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent international im Mittelfeld. Andere Länder, allen voran Australien und Belgien, stehen mit Werten von über 90 Prozent deutlich besser da. Allerdings gilt in beiden Ländern die Wahlpflicht. Wer dort nicht zur Wahl geht, muss mit teilweise empfindlichen Geldbußen oder sogar Gefängnisstrafen rechnen.
Ist das also ein Modell für ein aktiveres, zufriedeneres Wahlvolk in Deutschland? „So weit würde ich nicht gehen“, sagt Bergheim. „Viel wichtiger wäre es, dass die Politik den Menschen glaubhaft macht, dass sie ihnen tatsächlich zuhört und nicht unerreichbar im Raumschiff Mitte sitzt. Das ist es doch vor allem, was die Bürger frustriert und davon abhält, zur Wahl zu gehen: das Gefühl, ohnehin nichts ausrichten zu können und von der Politik nicht gehört zu werden.“
Die Regierungsinitiative „Gut Leben in Deutschland“ sei daher ein wichtiger Schritt in diese Richtung gewesen – dem möglichst bald ressortübergreifende Maßnahmen folgen sollten.
Zu einem der größten gesellschaftlichen Streitthemen und damit zu einem entscheidenden Dämpfer für das Glück gehört auch die Debatte über Armut und Ungleichheit. Zwar ist Deutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, eines der reichsten Länder der Welt. Doch dieser Wohlstand kommt längst nicht bei jedem an. Im Gegenteil: Im EU-Vergleich waren 2015 immerhin 20 Prozent der Menschen in Deutschland von Armut bedroht.
Die Kehrseite der deutschen Wohlstandsnation
In den breit gefassten Index fallen auch Arbeitslose, Studenten oder Rentner, was die Interpretation der Daten schwieriger macht als bei der reinen Betrachtung von Vollzeitbeschäftigten. In dieser Gruppe gelten jene Menschen als armutsgefährdet, die weniger als 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens erzielen.
In Deutschland betrifft das 7,1 Prozent der Vollzeitbeschäftigten. Ausgerechnet die Wohlstandsnation Deutschland steht damit alles andere als glänzend da. In den führenden europäischen Ländern, allen voran Finnland und Irland liegt diese Quote bei unter drei Prozent.
Einigen Ländern wie Irland und der Schweiz ist es zudem gelungen, diesen Wert über die Jahre nennenswert zu senken. Damit Deutschland das auch schafft, müssten laut Bergheim entweder die Arbeitgeber die Bezahlung aufstocken oder aber der Staat über weitere Transfers oder eine negative Einkommensteuer für die betroffenen Einkommensgruppen dafür sorgen, dass unterm Strich mehr Netto vom Brutto übrig bleibt.
Zudem könnten die betroffenen Personen selbst versuchen, sich über Weiterbildung für besser bezahlte Positionen zu qualifizieren. „Wichtig ist, dass auf allen Ebenen der Gesellschaft etwas unternommen wird, um die Armut zu verringern, denn dieses Problem betrifft uns alle“, sagt Bergheim.
Staatliche Eingriffe sind aus Sicht des Ökonomen auch bei einem weiteren großen Problem wünschenswert: der Schwierigkeit, ausreichend bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Für die Lebensqualität der Bürger ist das ein zentrales Thema – und eines, dem die Politik bisher nicht genug Bedeutung beimisst“, sagt Bergheim. Im OECD-Vergleich geben die Deutschen etwa 22 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Wohnraum aus.
Dringend gesucht: Konzepte für mehr bezahlbaren Wohnraum
Wünschenswert wären aus Sicht des Ökonomen Werte von unter 20 Prozent – damit würde Deutschland mit den führenden europäischen Ländern Norwegen und den Niederlanden nahezu gleichziehen. „Das Angebot an bezahlbaren Wohnungen für die entsprechenden Zielgruppen ist eine politisch beeinflussbare Größe“, heißt es in der ZGF-Studie.
Mögliche Stellschrauben seien mehr Sozialwohnungen und eine klare Einhaltung von Sozialbindung. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen, die auf die Preise für Bauland und den Bau selbst wirken, könnten überprüft werden. Der ZGF-Ökonom warnt jedoch davor, dabei zu sehr in den Markt einzugreifen.
„Eine Preisbremse für Bauland ist ähnlich zum Scheitern verurteilt wie jene für Mieten.“ Besser wäre es, einige kostentreibende Regulierungen auf den Prüfstand zu stellen oder Ausnahmen zuzulassen und vor allem einen bundesweiten Dialog von Staat, Eigentümern und Baufirmen zu initiieren.
Unterm Strich habe sich die Lebensqualität in Deutschland auch dank des guten Wachstums und des Beschäftigungsbooms in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Trotzdem gebe es noch jede Menge Handlungsbedarf, sagt Bergheim.
„Gerade weil die Welt immer komplexer wird, sehnen sich die Menschen nach einfachen Lösungen. Die Politik sollte die Bedürfnisse der Menschen und die Indikatoren zur Lebensqualität noch stärker berücksichtigen und entsprechend handeln – nicht nur im Wahljahr.“
https://www.welt.de/wirtschaft/article163338860/Die-Deutschen-gluecklicher-zu-machen-waere-so-einfach.html