Schweden hat seinen Staatsapparat so stark digitalisiert wie kaum ein anderes Land. Die Grundlage dafür ist, dass die Bürger ihre Daten freizügig preisgeben. Sie haben auch gar keine andere Wahl.

Die Steuererklärung gehört gemeinhin zu den unbeliebtesten Pflichten eines Bürgers. Nicht so bei den Schweden – für sie beschränkt sich der Aufwand auf eine Kurznachricht. Eine solche bekommen sie jährlich von der Steuerbehörde zugeschickt, mit einem Link zu der vor-ausgefüllten Erklärung. Sind alle Daten korrekt, braucht man bloss per SMS zu antworten: «akzeptiert». Auch andere lästige Behördengänge lassen sich im hohen Norden digital erledigen, etwa die An- oder Ummeldung des Autos, den Wohnsitzwechsel oder die Teilnahme an Wahlen. Selbst wenn das eigene Kind krank ist, teilt man das der Schule schnell über deren Website mit.

Ab 2030 ohne Bargeld

Schweden gilt international als Pionier im sogenannten E-Government, also der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen. In internationalen Rankings nimmt das nordische Land seit Jahren Spitzenpositionen ein. «Wir sind ein hoch digitalisiertes Land», sagt Christina Henryson. Sie leitet in der rot-grünen Regierungskoalition den Bereich E-Government und verantwortet die kontinuierliche Digitalisierung des öffentlichen Sektors. Tatsächlich scheint sich die Bevölkerung dem digitalen Wandel verschrieben zu haben, wie eine Studie der Internet-Stiftung in Schweden zeigt: 91 Prozent der Bevölkerung ist regelmässig online, drei Viertel der 10 Millionen Schweden besitzen ein Smartphone, 70 Prozent erledigen die Steuererklärung digital. Als erstes Land diskutiert Schweden darüber,bis 2030 das Bargeld abzuschaffen.

Dass die schwedische Gesellschaft derart technologisiert ist, erklärt sich einerseits damit, dass das Land bereits in den neunziger Jahren führende Telekommunikationskonzerne wie Ericsson beheimatete. Entsprechend wurden weite Teile des Landes an das Mobilfunk- und Breitbandnetz angebunden, und die Bevölkerung konnte diese Dienste früh anfangen zu nutzen. Andererseits schuf auch die Regierung Anreize. Ende der Neunziger initiierte sie etwa die sogenannte «PC-Reform»: Jeder Schwede konnte sich, staatlich subventioniert, bei seinem Arbeitgeber einen Computer kaufen. Innerhalb kürzester Zeit verfügten 80 Prozent der Bevölkerung über ein eigenes Gerät. Ähnliche Ansporne schuf der Staat beim Kauf von Mobiltelefonen.

Heute gelten Schweden gemeinhin als «first movers», sie besitzen gerne die neuesten Geräte und technischen Gadgets. Da wolle der öffentliche Sektor nicht zurückfallen, sagt Henryson. Die Regierung hat deshalb schon früh damit begonnen, immer mehr staatliche Dienstleistungen in den virtuellen Raum zu verlagern. 3000 «E-Services» biete der schwedische Staat mittlerweile seinen Bürgern an, sagt Henryson, fast jede Behörde verfügt über eine eigene App. Bei den grösseren Ämtern kann der Bürger mit wenigen Klicks sehen, welches seiner Anliegen wie weit ist in der Bearbeitung. Schreiben von Ämtern werden meist per E-Mail versendet. All das führe aber auch zu der unangenehmen Situation, sagen Kritiker, dass man mit Beamten fast nur noch elektronisch Kontakt aufnehmen könne und lange auf eine Antwort warten müsse, wenn die eigene Situation vom Standardfall abweiche.

Für den schwedischen Staat ist die zunehmende Digitalisierung ein hohes Gut, ein parteiübergreifendes Ziel. Damit sollen, erstens, die Qualität und Effizienz staatlicher Dienste verbessert werden; zweitens sollen die E-Services den Alltag der Bürger vereinfachen. Drittens fördert die Digitalisierung die Umsetzung eines anderen wichtigen Wertes: eines hohen Ausmasses an Transparenz. So hat in Schweden jeder Bürger ein Recht darauf, zu erfahren, wie viel der Nachbar, der Vorgesetzte oder auch der Ministerpräsident verdient und wie viel Steuern er zahlt. Im Fall des Regierungschefs Stefan Löfven waren das zuletzt umgerechnet rund 175 000 Franken Einkommen und 81 000 Franken Steuern, wie das schwedische Radio mit wenigen Klicks herausfand.

Wie lautet deine Nummer?

Was für andere befremdlich wirken mag, betrachten die Schweden als Errungenschaft. Für sie ist diese Transparenz kein Voyeurismus, sondern eine Voraussetzung für Fairness und notwendig, um Korruption zu verhindern. Die Grundlage für diese Transparenz und für die Digitalisierung des Staatsapparates ist eine schwedische Eigenheit: die sogenannte Personennummer. Diese zehnstellige Ziffernkombination, bestehend aus dem Geburtsdatum sowie vier beliebigen Zahlen, macht jeden Schweden eindeutig identifizierbar; es ist eine Art AHV-Nummer, die man aber für alle Bereiche des Lebens benötigt. Ob man einen Handy-Vertrag abschliessen, eine Wohnung anmieten oder Treuepunkte bei H&M sammeln will, nichts geht ohne die Personennummer.

1947 eingeführt, wird sie jedem Schweden ab Geburt zugeteilt – manchmal noch schneller als der Name, denn sobald ein Säugling zur Welt kommt, informiert das Spital die Steuerbehörde, die dann sogleich eine Nummer ausstellt. Sie ist der virtuelle rote Faden im Leben eines Schweden: Alle Daten, die zu einer Person über die Jahre anfallen, sind über die Personennummer verbunden – allerdings ist es nicht erlaubt bzw. nur einzelnen Behörden gestattet, das gesamte Bild zu sehen.

Statt «Wie heisst du?» werde man in Schweden oft «Wie ist deine Nummer?» gefragt, erklärt Ingegard Widell lachend, die bei der Steuerbehörde für Personennummern zuständig ist. Das Amt ist der Musterschüler des schwedischen E-Government-Projekts und wurde mehrfach international dafür ausgezeichnet, wie bürgerfreundlich es seine Dienstleistungen gestalte. Ausländischen Regierungen, die vom schwedischen E-Government lernen wollen, erklärt Widell regelmässig, wie die Personennummer funktioniert; gerade erst sei eine Delegation aus Japan zu Besuch gewesen. Meist reagierten die ausländischen Gäste skeptisch – ob es die Schweden nicht störe, dass eine Nummer alles über sie preisgebe? Widell teilt diese Einwände nicht, das System sei bequem und praktisch.

Datenschutzrechtlich sei das schwedische Modell aber bedenklich, sagt Simone Fischer-Hübner, eine gebürtige Deutsche, die seit zwölf Jahren Professorin für Computerwissenschaften an der Universität Karlstad ist. Zum Vergleich verweist sie auf ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1983, das ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert und «Personenkennzeichen» als verfassungswidrig bezeichnet. Dass die Schweden das System der Personennummer nicht infrage stellen, erklären Fischer-Hübner wie auch andere Gesprächspartner mit Verweis auf die Geschichte: Negative Erfahrungen mit Datensammlungen, wie es sie in Deutschland mit dem Nazi-Regime oder der Stasi gab, haben die Schweden nie gemacht. Zudem ist das Vertrauen der Schweden in ihren Staat im Vergleich zu anderen OECD-Ländern überdurchschnittlich hoch, wie Studien zeigen. Mit Blick auf die Personennummer teilen viele Schweden die Meinung von Widell: Sie vertrauen dem Staat, und sich mit einer Nummer fast überall ausweisen zu können, ist praktisch und bequem.

Mit den personenbezogenen Daten, die der Staat sammelt, optimiert er einerseits öffentliche Dienstleistungen, etwa um die Daten für die Einkommenssteuererklärung der Bürger vorab zusammenzutragen. Andererseits verkauft er sie aber auch an private Unternehmen, die darauf basierend weitere Dienstleistungen entwickeln. Der Staat sehe die Daten seiner Bürger als sein Besitztum an und stecke die Erlöse aus dem Datenverkauf ein, bestätigt Henryson. Selbst wenn sich die Bürger an dem System stören würden, entziehen könnten sie sich ihm nicht – jeder muss eine Personennummer haben.

Estland als harte Konkurrenz

Im Versuch, das eigene E-Government ständig zu verbessern, hat Schweden beratende Institutionen geschaffen, darunter die sogenannte Digitalisierungs-Kommission. Das politisch unabhängige Expertengremium erarbeitet seit 2012 Vorschläge dazu, wie man die Digitalisierung im Land vorantreiben kann. Eine Anregung laute etwa, dass die Behörden besser miteinander kooperieren sollten, sagt Jan Gulliksen, Professor für Computerwissenschaften an der technischen Universität KTH und Vorsitzender der Kommission. Das Ziel sei, dass jeder Bürger nur einmal nach Daten gefragt werde und diese dann unter den Behörden ausgetauscht würden.

Das Gremium attestiert der Regierung auch, was verschiedene Studienzeigen: dass der einstige Pionier Schweden im Vergleich zu anderen Ländern beim E-Government zurückfällt. (Verweis) Bei der Personennummer etwa kämpfen die Behörden damit, dass angesichts der hohen Zuwanderung die Personennummern für manche Geburtstage aufgebraucht sind. Estland hingegen, in vielen Studien Spitzenreiter punkto E-Government, hat bei seiner Version der Personennummer von vorneherein auf willkürliche Ziffernkombinationen gesetzt. «Estland als recht junges Land trägt nicht die Last alter Systeme», sagt Gulliksen. Auch setzen andere Länder die Digitalisierung konsequenter durch: Der Nachbar Dänemark hat verfügt, dass Behördenpost gar nicht mehr auf dem Briefweg zugestellt werden darf. In Schweden sei so etwas gesetzlich nicht möglich, sagt Gulliksen.

Zu besorgt ist er aber nicht, dass Schweden in Rankings immer weiter zurückfallen wird. Manche Länder hätten noch gar nicht realisiert, dass Digitalisierung mehr ist, als ein Blatt Papier elektronisch verfügbar zu machen.

Schweizer Krämpfe mit dem E-Voting

hhs. ⋅ Es gab Zeiten, da war die Schweiz eine Pionierin bei der elektronischen Stimmabgabe. Bereits im Jahr 2000 setzte sich der Bundesrat mit dem Projekt Vote électronique ambitionierte Ziele und schuf zwei Jahre später die nötigen Rechtsgrundlagen. 2004 gab es in Genf die ersten Versuche bei eidgenössischen Abstimmungen. So ging es in kleinen Schritten, aber doch kontinuierlich voran – bis zum grossen Knall im August 2015. Da verweigerte die Bundeskanzlei den neun im sogenannten Consortium versammelten Kantonen die Bewilligung, ihr E-Voting-System für die nationalen Wahlen im Oktober einzusetzen. Grund: Das Stimmgeheimnis sei nicht unter allen Umständen gewahrt. So durften nur in vier Kantonen einige Tausend Bürger – vor allem Auslandschweizer – elektronisch wählen. Das Consortium jedoch brach auseinander. Übrig geblieben sind zwei Systeme, jenes des Kantons Genf und jenes aus Neuenburg. Beide buhlen derzeit um die Gunst der übrigen Kantone. Die Ausmarchung steht auch unter ideologischen Vorzeichen: Das Genfer Modell ist rein staatlich und setzt auf Open-Source-Lösungen aus dem Inland. Die Neuenburger hingegen spannen mit der Post zusammen, die Software stammt vom spanischen E-Democracy-Unternehmens Scytl. Freiburg hat sich bereits für dieses zweite System entschieden. Der Kanton Basel-Stadt, der bisher bei den Genfern mitmachte, hat sein E-Voting-System öffentlich ausgeschrieben; in Genf wird dies als Signal dafür interpretiert, dass die Basler auf dem Absprung in Richtung Post sind. Wie der Sprecher Oliver Flüeler sagt, ist die Post in Gesprächen mit weiteren Kantonen und will sich an allfälligen Ausschreibungen beteiligen. Dafür prüft der Kanton Waadt, der noch keinen elektronischen Stimmkanal hat, ob er sich Genf anschliessen soll. Zwar dauert es noch über drei Jahre bis zu den nächsten Wahlen. Doch angesichts der zögerlichen Positionsbezüge vieler Kantone ist praktisch ausgeschlossen, dass 2019 zumindest alle Auslandschweizer per Mausklick partizipieren können, wie das ihr Verband ASO fordert. Sie haben jedoch ein besonderes Interesse am E-Voting, weil für sie die Stimmabgabe so stark erleichtert wird. Auf dem Postweg treffen die Dokumente oft zu spät ein. Doch es mangelt auch nicht an mahnenden Stimmen: Der Informatik-Experte Niklaus Ragaz etwa warnte in der NZZ vor Hackerangriffen auf Abstimmungs-Server.

Chancen der Digitalisierung

Von intelligenten Autos und Industrie 4.0 über die Sharing- Economy zu digitalem Lernen und zur Partnersuche: Die Digitalisierung verändert die Art, wie wir leben und wirtschaften. Das eröffnet neue Chancen und Möglichkeiten. Die NZZ zeigt zweimal wöchentlich welche. Am nächsten Freitag lesen Sie, wie Schweden zum Musterschüler im e-Government wurde.

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