Wien plant am Brenner Kontrollen und Schlagbäume. Eine Ironie der Geschichte, denn Österreich hat die Grenze jahrzehntelang bekämpft.

Der Phantomschmerz
Mit vielen Emotionen verbunden: Jahrzehntelang hatte Österreich die Grenze am Brenner bekämpft. (Bild: mauritius images)

Das Geschäft mit der Italianità war auch schon einträglicher. Noch immer reiht sich im Grenzort Brenner Salumeria an italienische Weinhandlung, Pizza-Bude an Trattoria. Doch dazwischen sind die Schaufenster verschiedener Ladenlokale mit Papier verklebt, an den Türen hängen Hinweise für Mietinteressenten. Die Gemeinde lebte jahrzehntelang von der Grenze: von den verschiedenen Währungen, dem kleinen Schmuggel, vor allem aber von der Sehnsucht der nach Süden Reisenden und der Wehmut der Rückkehrer. Auf dem Brenner kauften Touristen nochmals italienische Spezialitäten, und der Espresso gilt nach wie vor als der beste in Österreich.

Notfalls wieder «dichtmachen»

Als in der Nacht zum 1. April 1998 aufgrund des Schengen-Abkommens der Grenzbalken fiel, spielte die örtliche Blasmusik auf. Für Tirol war es eine Feierstunde, die Gemeinde jedoch stand vor einem Neubeginn. Dutzende von Zöllnern, Grenzbeamten und Carabinieri zogen mit ihren Familien weg. Mit dem Euro entfiel das gängige Aufbrauchen des Feriengelds, und italienisches Olivenöl ist längst auch in Supermärkten nördlich der Alpen erhältlich. Heute dominiert ein grosses Outlet-Center das Erscheinungsbild Brenners, das internationale Marken zum Schnäppchenpreis anbietet. Allerdings lebt auch dieses vom Durchreiseverkehr. Mehr als die Hälfte der Kunden sind Deutsche und Österreicher auf dem Weg in den Süden oder zurück, wie Maximilian Wild von der Center-Leitung erklärt.

Aus dem Fenster seines Büros kann man die schmale Talsohle überblicken, in der eng nebeneinander die Autobahn, die Bahngeleise und eine Landstrasse Norden und Süden verbinden. Diese Brückenfunktion hat der Pass auf 1370 Metern Höhe seit Jahrhunderten. Schon in der Bronzezeit wurde er nachweislich begangen, heute ist die Autobahn die wichtigste alpenquerende Verkehrsverbindung überhaupt (vgl. Grafik). Und hier soll notfalls «dichtgemacht» werden, wie es der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil kürzlich formulierte?Schwer vorstellbar sei das, findet der Bürgermeister von Brenner, Franz Kompatscher, der hauptberuflich als Mittelschullehrer arbeitet. «Meine Maturanden wissen gar nicht mehr, was eine Grenze ist. Die haben das nie erlebt», erzählt er.

Doch seit kurzem wird nun gebaut, zunächst ein Dach für die geplanten Kontrollstellen. Später werden Registrierzentren und Absperrungen errichtet. Bis Ende Mai soll das «Grenzmanagement» nach dem Vorbild von Spielfeld stehen – vorerst als Vorbereitungsmassnahme, um für einen Ansturm von Migranten gerüstet zu sein, wie es in Wien heisst. Ob es zu engmaschigen Kontrollen kommt, ist offen. Gleichwohl hat die Ankündigung nicht nur in Italien und Brüssel, sondern auch in Österreich für helle Aufregung gesorgt.

Denn der Brenner ist nicht irgendeine Grenze. Jahrzehntelang galt diese in Österreich als Unrecht, als Riss durch die historische Landeseinheit Tirol, als Belastung für die Beziehungen zum Nachbarland Italien. Denn nachdem Südtirol über 550 Jahre zu Österreich gehört hatte, wurde es nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im Friedensvertrag von Saint-Germain 1919 Italien zugeschlagen. Für den österreichischen Rumpfstaat, an dessen Überlebensfähigkeit ohnehin viele zweifelten, war dies ein Schock, hatte man doch auf die Berücksichtigung der nationalen Selbstbestimmung gehofft, die der amerikanische Präsident Wilson in seinem 14-Punkte-Plan als Ideal umrissen hatte.

Der Phantomschmerz

Österreich musste mit dem Friedensschluss bedeutende Territorien abgeben, auch den Verlust Deutschböhmens oder Nordmährens hatte man in Paris zu verhindern versucht. Doch Südtirol spielte eine besondere Rolle und stellte eine Art Phantomschmerz der jungen Republik dar. Der Wiener Historiker Helmut Wohnout erklärt dies mit dem Nimbus vom «heiligen Land Tirol», der seit dem Tiroler Volksaufstand gegen die bayrisch-französische Besatzung 1809 gepflegt wurde. Herzog Friedrich IV. hatte Innsbruck zudem bereits im 15. Jahrhundert zur Residenzstadt gemacht, der wichtige Bischofssitz befand sich aber in der Südtiroler Gemeinde Brixen. Mit der ehemals «gefürsteten Grafschaft Tirol» wurde 1919 eine jahrhundertealte Einheit gesprengt, die Österreich als sein Kerngebiet empfand. Dazu kommt, dass der Seitenwechsel Italiens, das vor dem Krieg dem Dreibund mit dem Deutschen Reich und der Donaumonarchie angehört hatte, als Verrat galt. Italien wurde fortan auch von der Kriegspropaganda als Erbfeind dargestellt, keine andere Front habe die Öffentlichkeit derart aufgewühlt, erklärt Wohnout.

Mit Südtirol sei im damaligen Verständnis ein Stück des Herzens weggebrochen, sagt auch die Südtiroler Historikerin Eva Pfanzelter von der Universität Innsbruck, während andere Territorien eher als Randgebiete empfunden worden seien. Die Unterdrückung der deutschsprachigen Südtiroler im Zuge der Italianisierung zur Zeit des Faschismus leistete der Solidarität nördlich des Brenners Vorschub. Nach dem Zweiten Weltkrieg strebte Österreich nur noch eine Grenzveränderung an: jene durch Tirol. «Man gebe uns unser Südtirol zurück, das vor Gott und der Welt uns gehört», forderte Staatskanzler Karl Renner 1945 vor dem Parlament. Nördlich und südlich der Grenze fanden Wallfahrten zur Wiedererlangung der Einheit statt, und 155 000 Südtiroler unterschrieben für eine Angliederung an Österreich. Doch die Pariser Aussenministerkonferenz entschied sich 1946 für die Beibehaltung der Brennergrenze, verlangte aber den Abschluss eines Autonomievertrags, der Österreich als Schutzmacht der Südtiroler anerkannte.

Für das wirtschaftlich darniederliegende und bis 1955 vollständig besetzte Österreich sei die Südtirol-Frage nach dem Zweiten Weltkrieg ein identitätsstiftendes Merkmal geworden, gar ein Teil eines zaghaft entstehenden Nationalbewusstseins des Kleinstaats auf Sinnsuche, erklärt Pfanzelter. Da Italiens Regierung die Umsetzung des Autonomiestatuts verzögerte und die Zuwanderung von italienischsprachigen Arbeitsmigranten in die Region förderte, gelangte Österreich an die Uno-Generalversammlung, die in zwei Resolutionen Italiens Bindung an das Statut festhielt. Diese Internationalisierung des Konflikts war ein bedeutender Erfolg für die junge Republik Österreich.

Parallel dazu kam es ab 1956 zu rund 360 Bombenanschlägen auf italienische Einrichtungen durch Aktivisten, die die Loslösung von Rom verlangten. In Österreich genossen die Attentäter Unterstützung und wurden verharmlosend «Bumser» genannt – bis heute ist umstritten, ob der Rückhalt bis auf höchste politische Ebenen reichte. Unter diesem Druck kam es zu einem neuen Autonomiestatut, dessen Verwirklichung dauerte aber nochmals 20 Jahre. Erst 1992 erklärte Wien gegenüber Italien und der Uno offiziell, der Streit sei beigelegt.

Wetterkarten mit Südtirol

Dennoch hiess es nach dem EU-Beitritt Österreichs und dem Schengen-Abkommen, endlich wachse wieder zusammen, was zusammengehöre. Die Schutzmachtfunktion wurde ohnehin nie infrage gestellt, auch wenn sie bedeutungslos geworden ist. Noch heute empfinden viele Österreicher Südtirol emotional als Teil ihres Landes. Über Landtagswahlen wird jeweils fast so ausführlich berichtet wie über hiesige Regionalwahlen, und die «Tiroler Tageszeitung» oder dieWebsite des ORF zeigen auf ihren Wetterkarten Südtirol ganz selbstverständlich mit. Eine Umfrage des Südtiroler Heimatbundes Anfang 2015 ergab, dass 89 Prozent der Österreicher ein Referendum in Südtirol und eine Vereinigung begrüssen würden.

Experten zweifeln an diesem Resultat. Auch Bürgermeister Kompatscher glaubt, die Frage sei in einem vereinten Europa schlicht nicht mehr relevant. Umso heikler ist aber ein neuer Schlagbaum am Brenner. Selbst Österreichs Freiheitliche, die sich seit Monaten für Grenzkontrollen und Zäune aussprechen, lavieren. Südtirol gehöre zur Heimat, betonen prominente Parteiexponenten. «1998 haben wir die Grenze endlich weggebracht. Dass sie nun wieder errichtet werden soll, ist schwer verdaulich», sagt Kompatscher. Noch weiter geht die Historikerin Pfanzelter. Österreich habe die Grenze jahrzehntelang bekämpft. Dass nun ausgerechnet Wien sie gegen den Widerstand Roms wieder hochziehe, sei ein Tabubruch.

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