Nachts einsam zu sterben: Das ist die Angst vieler älterer Gefangenen in Vollzugsanstalten. Die Insassen werden älter. Doch nicht nur für sie wird das Sterben hinter Gittern zur Belastung.
«Wenn du draussen wärst und so krank, dass es dem Ende entgegengeht, hast du Familienangehörige um dich herum, die dich begleiten. Hier ist niemand da. Du würdest abkratzen mitten in der Nacht, keine Ahnung wie, ist jemand da, der dir noch die Hand hält oder irgendetwas Nettes sagt oder was auch immer.» (Gefangener in einer Schweizer Strafvollzugsanstalt)
Seine Strafe absitzen und irgendwann einmal rauskommen, seine Freiheit zurück erhalten – und damit das Leben: So sieht die Perspektive für die meisten Gefangenen in Schweizer Gefängnissen aus, und auf dieses Prinzip ist der auf einer Resozialisierung basierende Strafvollzug aufgebaut. Doch die Bevölkerung altert – und mit ihr die Population im Vollzug. Der mittlere Bestand der 50-jährigen und älteren Gefangenen in der Schweiz hat sich gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik seit 1984 fast verdreifacht, über 70-Jährige sind es heute sogar acht mal so viele. In absoluten Zahlen ist das Phänomen zwar noch überschaubar. Doch alleine 2014 wurden 190 über 60-Jährige eingewiesen. In den nächsten 15 Jahren wird sich diese Zahl verdreifachen. Altern und Sterben hinter Gittern – es wird zu einem Stück Realität des Justizsystems.
Die Gründe sind rasch aufgezählt: Auch im Strafvollzug widerspiegelt sich die demografische Entwicklung, zumal im Vollzug häufig ein beschleunigter Alterungsprozess zu beobachten ist. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen später im Leben straffällig werden. Und nicht zuletzt: Das wachsende Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung führt zu einer Zunahme von verwahrten Gefangenen, für die kein Ende des Freiheitsentzugs vorgegeben ist. Sie sind für immer von der Gesellschaft ausgeschlossen und sterben in Gefangenschaft. Doch obwohl die Gründe dafür seit langem bekannt sind und die Entwicklung damit absehbar war: Im Justizvollzug ist der Tod bisher kaum Thema. Höchstens als Folge von Suizid und Unfall ist er bis ins Detail geregelt. Das natürliche Sterben aber bleibt in Anstalts-Handbüchern unerwähnt.
Weshalb keine Rauchpause?
«Der Justizvollzug ist schlecht auf sterbende Gefangene vorbereitet», lautet die Hauptaussage einer wissenschaftlichen Publikation, die das Thema unter Leitung des Berner Sozialanthropologen Ueli Hostettler im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» (NFP 67) untersucht. Das Buch des dreiköpfigen Autorenteams basiert vor allem auf Gesprächen mit Gefangenen und Angestellten von Gefängnissen, aber auch mit Institutionen, Behörden und Angehörigen. Sämtliche Beteiligten seien überfordert, weil die klassischen Aufgaben im Vollzug – das Überwachen und Kontrollieren – im Widerspruch zu den neuen, altersbedingten Aufgaben der Betreuung, Pflege und Sterbebegleitung stehen. Die Perspektivlosigkeit macht es nicht nur den alternden Gefangenen selbst schwer, einen Lebenssinn zu finden, es stellt auch die Sinnhaftigkeit der Arbeit des Gefängnispersonals infrage.
Aussagen von Gefangenen und Aufsehern veranschaulichen diese Konflikte – etwa wenn es um so alltägliche Dinge wie eine Rauchpause geht: «Normalerweise darfst Du als Gefangener während der Arbeit nicht rauchen gehen. Warum nicht? Warum kann er jetzt nicht raus? Der ist ja ewig hier, der stirbt hier?», hinterfragt einer die Regeln des Alltags, die unter dem Eindruck des nahenden Todes zum Selbstzweck werden. Die befragten Mitarbeiter sind sich, so die Autoren, darin einig, dass es eine Anpassung der Vollzugsform brauche, mit dem Ziel, auch Verwahrten im Vollzug ein lebenswertes Leben bis zum Tode zu ermöglichen. Hinterfragt wird auch das zum Schutz der Angestellten erlassene Verbot, Gefangene zu berühren: «Wir Menschen brauchen Berührungen, und diese Leute sind ja alle, ich sage jetzt mal, vertrocknet in Sachen Berührung.»
Einsam und alleine sterben
Erst recht stösst der Vollzug an seine Grenzen, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht. Viele Gefangene haben Angst, nachts einsam und unbemerkt, alleine in der Zelle eingeschlossen zu sterben. Insassen, die mit ansehen, wie ein Mitgefangener stirbt, erleben die Betreuung vielfach als ungenügend. So entstehe mit Blick auf das Sterben der Eindruck, dass auch das Leben im Gefängnis minderwertig und sei und die Menschenwürde – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spiele. Gleichzeitig wächst bei den Gefangenen der Wunsch, das durch die Tat ins Ungleichgewicht gebrachte Gefüge von Recht und Unrecht vor dem Tod wieder ins Lot bringen zu können, also sozusagen als guter Mensch zu sterben. Und auch über den Ort machen sich die Sterbenden Gedanken: «Das ist mein Wunsch, dass ich bei einem Baum sterben kann. Jedenfalls will ich nicht im Spital sterben. Lieber im Gefängnis, im Garten draussen.»
Mit solchen Wünschen, Widersprüchlichkeiten und Ängsten sind die meisten Angestellten im Vollzug überfordert, wie Hostettler und seine Mitautorinnen schreiben. Der Tod ist im Justizvollzug bisher vor allem eine Folge von Unregelmässigkeiten – und deshalb mit allen Mitteln zu verhindern. Schwerkranke aber haben unter Umständen gegenteilige Bedürfnisse, beispielsweise die palliative Pflege mit lebensverkürzenden Folgen, die neben der medizinischen auch eine psychologische und spirituelle Begleitung erfordert. Der Aufwand ist enorm, weshalb sterbende Gefangene oft auch gegen ihren Willen in ein Spital verlegt werden. Das ist nicht selten auch für das Personal schwer zu ertragen. Gleichzeitig ist offenkundig, dass der Gefängnisalltag nicht auf ein Leben mit dem Tod ausgerichtet ist, wie ein befragter Seelsorger im Buch schildert: «Wahrscheinlich ist es nötig, dass wir bereits vor dem Sterben das Vertrauen schaffen, das es braucht, wenn es dann einmal so weit ist.»
«Wegsterben» ohne Verlust
Und selbst nach dem Ableben eines Gefangenen bleibt der Tod eine unaussprechliche Sache: Über den Hinschied eines Mitgefangenen werde häufig via Aushang informiert: «Es heisst dann einfach, er sei gestorben. Wie weiss man natürlich jeweils nicht genau.» Stirbt ein Gefangner, werden seine Mitgefangenen zu Hinterbliebenen, die aber nicht als solche wahrgenommen werden, auch ausserhalb der Anstalt nicht. Während Angehörige von Verstorbenen ausserhalb des Justizvollzugs in der Regel grosse Anteilnahme erfahren, werde das «Wegsterben eines Gefangenen» vonseiten der Bevölkerung nicht unbedingt als Verlust wahrgenommen, so Hostettler. Auch Mitarbeiter, bei denen der Tod eines Gefangenen oft grosse Betroffenheit auslöse, würden oft vor allem mit Kritik von allen Seiten konfrontiert.
Das Sterben und der Tod stören den Justizalltag. Im in vielerlei Hinsicht starren Regelwerk des Vollzugssystems bedeutet der Hinschied eines Gefangenen bisher unter dem Strich oft vor allem eines: Eine frei werdende Zelle.
«Lebensende im Justizvollzug», Ueli Hostettler, Irene Marti, Marina Richter. Stämpfli Verlag Bern, 141 Seiten
http://www.nzz.ch/schweiz/tod-im-justizvollzug-das-kalte-sterben-hinter-gefaengnismauern-ld.17089