Indien ist einer der grossen Gewinner des Preiszerfalls an den Rohstoffmärkten. Dies hilft der Regierung Modi. Denn im vielversprechenden Wachstumsmarkt ist die Stimmung sonst gedämpft.

Das Geschenk des billigen Erdöls

Der Reliance-Konzern, der im indischen Gliedstaat Gujarat die weltgrösste Raffinerie betreibt, profitiert vom Fall des Erdölpreises. (Bild: Imago)

Profitable Raffinerien

Reliance verzeichnete für das dritte Quartal des laufenden Finanzjahres (September bis Dezember) einen Gewinn von 72,9 Mrd. R. (1,06 Mrd. Fr.), was einer Steigerung von 38,7% im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres entspricht. Der Konzern, der im indischen Gliedstaat Gujarat die weltgrösste Raffinerie betreibt, profitiert vom Fall des Erdölpreises, der die Margen im Raffinerie-Geschäft markant hat ansteigen lassen. Auch die generell gestiegene Nachfrage nach Erdölprodukten hat sich positiv auf den Gewinn ausgewirkt, wie der Konzern bekanntgab.

Dass einer der grössten Gewinner des gegenwärtigen Preiszerfalls am Ölmarkt aus Indien stammt, ist durchaus stimmig. Ungeachtet der gegenwärtigen Katerstimmung an der Mumbaier Börse profitiert kaum ein Land so stark von den tiefen Rohstoffpreisen wie Indien. Das Schwellenland, der viertgrösste Verbraucher und drittgrösste Importeur fossiler Brennstoffe weltweit, wird laut Berechnungen des Ölministeriums vom Dezember für die Einfuhren von Rohöl während des bis März laufenden Finanzjahres 2016 (188,2 Mio. t) 2,14 Bio. R. (31,5 Mrd. Fr.) weniger ausgeben als im Vorjahr. Angesichts des sich seit da fortsetzenden Preiszerfalls dürften die Einsparungen sogar noch höher ausfallen. Und dies, nachdem bereits im Finanzjahr 2015 die Importkosten um zweistellige Milliardensummen geringer gewesen waren als im Jahr davor.

Dies verringert das Aussenhandelsdefizit und hilft, die Rupie relativ stabil zu halten. Trotz erheblichen Preissprüngen bei einigen heimischen Verbrauchsgütern, etwa Grundnahrungsmitteln wie Hülsenfrüchten, lag die Inflation im Dezember mit 5,6% im von der Nationalbank angestrebten Bereich. Die günstige Preisentwicklung erlaubte es Indiens Währungshütern, den Leitzinssatz seit Jahresbeginn um insgesamt 125 Basispunkte auf 6,75% zu senken.

Delhi nutzt Gunst der Stunde

Der tiefe Ölpreis entlastet die Staatskasse auch indirekt, etwa durch geringere Ausgaben für Treibstoffsubventionen. Auch weiss Delhi die veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Rohstoffmarkt zu seinen Gunsten zu nutzen, wie etwa die zum Jahresende abgeschlossene Überarbeitung des langjährigen Abnahmevertrags der staatlichen Gasgesellschaft Petronet mit der katarischen Rasgas zeigt. Trotz laufender Vertragsdauer stimmte Rasgas einer Reduktion des festgelegten Lieferpreises um fast 50% zu und verzichtete auf die ihr vertraglich zustehende Strafzahlung von 1,8 Mrd. $. Zudem spart Delhi nicht nur ein, sondern erhöht auch die Einnahmen. Die Verbrauchssteuern für Treibstoff wurden allein seit Dezember dreimal erhöht. Auch die Wiedereinführung einer 2012 ausgesetzten Importsteuer auf Rohöl von 5% wird erwogen.

Freilich gibt es auch in Indien Verlierer. Förderunternehmen wie die mehrheitlich staatliche Oil and Natural Gas Corporation, Indiens grösste Firma, leiden unter dem Preiszerfall. Der Aktienkurs ist seit Oktober um 20% eingebrochen. Indirekt drohen auch andernorts nicht unwesentliche Einbussen. Wenn die ölexportierenden Staaten im Golf angesichts einer längeren Durststrecke Investitionen im eigenen Land zurückfahren, trifft dies unweigerlich die indischen Gastarbeiter in der Region. Diese kamen für 60% der 65 Mrd. $ auf, die im Finanzjahr nach Indien rücküberwiesen wurden. Noch härter trifft es freilich Länder wie Nepal oder Bangladesh, in denen Rimessen einen weit grösseren Anteil an der Volkswirtschaft ausmachen als in Indien.

Dennoch, der Preissturz am Rohstoffmarkt ist für die indische Wirtschaft eine günstige Fügung. Er verleiht zusätzlichen Spielraum für Investitionen, ohne die Preisstabilität zu gefährden. Allerdings blieb die Wirtschaftspolitik der Regierung Modi bisher nicht in erster Linie wegen Finanzierungsproblemen hinter den Erwartungen zurück. Gleich mehrere Reformprojekte sind gescheitert, Investitionspläne kommen nicht vom Fleck. Dass daran auch die Obstruktionspolitik der oppositionellen Kongresspartei Schuld trägt, ändert nichts an der zunehmenden Enttäuschung wirtschaftsnaher Kreise.

Zwar gilt das Land mittlerweile als am schnellsten expandierende grosse Volkswirtschaft der Welt, die Weltbank prognostiziert ein Wachstum von 7,8% für 2016. In der Realwirtschaft schlägt sich dies allerdings (noch) nicht nieder: Investitionsausgaben, Beschäftigungszahlen, Frachttransporte und andere wachstumsrelevante Indikatoren zeigen ein weniger rosiges Bild. Das billige Öl ist ein Geschenk, mit dessen Hilfe Indien 2016 an Fahrt aufnehmen kann. Es sollte nicht ungenutzt bleiben.

Forrás: http://www.nzz.ch