Ungarns Außenminister Szijjártó wirft Europa bei der Grenzsicherung Versagen vor. Insbesondere auf Griechenland sei kein Verlass. Seine Lösung sieht einen radikalen Schritt gegen das EU-Mitglied vor.
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Die Welt: Vor einem Jahr hat Deutschland Flüchtlinge direkt aus Ungarn geholt. Angela Merkel sagte ihren inzwischen legendären Satz: „Wir schaffen das.”Inwieweit hat sich Europa seither verändert?
Péter Szijjártó: Vieles hat sich verändert. Das lag auch an den allgemeinen Umständen. Europa hat mit so vielen Krisen gleichzeitig zu tun wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg: die Flüchtlingskrise, der Krieg in der Ukraine, dieterroristische Bedrohung, die Migration allgemein. Jede einzelne Herausforderung wäre für sich allein genug gewesen, um das europäische Krisenmanagement zu belasten. Diese Ballung von Krisen ist historisch einmalig.
Die Welt: Welchen Schluss ziehen Sie daraus?
Szijjártó: Ich glaube, Europa muss sich diesen Herausforderungen neu stellen. Wir kommen mit Scheinheiligkeit und der Betonung der politischen Korrektheit nicht mehr voran. Wir müssen offen sein, die Krisen illusionslos betrachten, eine nüchterne Bestandsanalyse vornehmen und dann handeln. Auf alle Fälle sollten wir nicht immer schon vor der Analyse die Antworten vorgeben.
Die Welt: Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagt, die Ankündigung Ungarns, einen Grenzzaun zu bauen, habe wesentlich mehr Flüchtlinge angezogen als die Entscheidung der Bundeskanzlerin am 4. September, die Grenzen zu öffnen. Was sagen Sie dazu?
Szijjártó: Wir hätten keinen Grenzzaun errichtet, wenn es eine gemeinsame europäische Antwort gegeben hätte. Für uns stand immer fest: Unsere Grenze zu schützen ist eine Frage der ungarischen Souveränität. Diese Souveränität werden wir niemals infrage stellen. Es war für uns nicht akzeptabel, dass Tag für Tag Tausende oder Zehntausende von Menschen unsere Grenze lächelnd überquerten, durch unser Land marschierten und dabei unsere Gesetze missachteten. Dieser Missstand musste so schnell wie möglich beendet werden. Im Übrigen haben wir nicht nur ungarisches Recht geschützt, wir haben auch europäisches Recht geschützt. Denken Sie an die Schengen-Regeln und die Dublin-Vereinbarungen. Das von uns allen gebilligte europäische Rechtssystem durfte und darf wegen der Flüchtlingskrise nicht aufgegeben werden. Die Errichtung unseres Grenzzauns war die Umsetzung des Schengen-Abkommens. Nicht mehr und nicht weniger.
Die Welt: Im Rückblick muss man sagen, dass die Zahl der Flüchtlinge damals noch nicht zurückging. Sie reduzierte sich, als Mazedonien die Grenze schloss.
Szijjártó: Damals änderten sich die Migrantenrouten laufend. Erst kam die Mehrheit der Migranten über Kroatien, dann über Ungarn. Als wir dann die Grenzen schlossen, ging der Strom über Slowenien und Österreich. Unser Schritt zeigte damals den übrigen Europäern: Es ist eben doch möglich, seine Grenzen zu kontrollieren und diesen Strom aufzuhalten. Natürlich wären wir glücklich darüber gewesen, wenn der Staat mit der wirklichen EU-Außengrenze, nämlich Griechenland, seine Außengrenze kontrolliert und geschützt hätte …
Die Welt: Hätten die Griechen in der Ägäis ihre Grenze kontrollieren können?
Szijjártó: Wir wissen alle, wie schwer es ist, selbst Landgrenzen zu schützen. Aber es ist nicht unmöglich. Es muss nur getan werden. Die Griechen und auch Brüssel taten wenig dafür, mit größtmöglicher Anstrengung die Schritte zu unternehmen, die für den Grenzschutz nötig sind.
Die Welt: Was hätte Europa tun sollen?
Szijjártó: Es hätte eine robuste Grenztruppe zusammengestellt werden können. Es hätte in Brüssel darüber Beratungen geben können, wie viele Boote, wie viele Hubschrauber und Laster Griechenland und andere Staaten benötigen. Dann hätte man sie auch zeitnah liefern müssen. Nichts dergleichen ist geschehen.
Die Welt: Wir reden jetzt immer über die Sicherung der Grenzen. Was ist denn, wenn die Leute erst einmal im Land sind? Deutsche Gerichte haben mehrfach entschieden, Flüchtlinge nicht mehr nach Ungarn abzuschieben, weil die Bedingungen humanitären Standards nicht entsprechen.
Szijjártó: Ich muss alle Berichte zurückweisen, die versuchen, einen Kontext zu konstruieren, in dem die ungarischen Unterkünfte internationalen Standards nicht genügen. Ungarn hat sich immer an diese Standards gehalten. Wir hatten inUngarn nie das Problem, nicht genug Platz in Unterkünften zu haben. Unser Problem war vielmehr, dass die Menschen, die über unsere Grenzen kamen, sich weigerten, unsere Flüchtlingsunterkünfte zu beziehen. Die Dublin-Regeln sind da klar: Wenn ein Flüchtling in einem Land um Asyl bittet, dann muss er sich registrieren lassen und im Land bleiben. Die Migranten, die nur auf der Durchreise in Ungarn waren, haben sich nicht an die Regeln der EU gehalten. Das zeigt: Das EU-System ist kaputt und ineffizient.
Die Welt: Ein Problem ist, dass kein Staat die Dublin-Regeln einhielt.
Szijjártó: Die Migranten sind nicht mit dem Flugzeug nach Ungarn gereist, so viel steht fest. Die Dublin-Regeln besagen, dass die Flüchtlinge in das Land zurückgesandt werden müssen, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Was Ungarn angeht, so ist es physikalisch unmöglich, dass Migranten in Ungarn nicht vorher bereits ein anderes EU-Land betreten haben. Klar nehmen wir Migranten zurück, die über Ungarn weiterzogen. Wir werden diese Migranten aber wiederum in die Länder zurückschicken, in denen sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Mit vielen Balkanländern haben wir Abkommen. Wir nehmen nur jene Migranten aus den Staaten des Westbalkans zurück, die Ungarn als erstes EU-Land betreten haben.
Die Welt: Das hieße, viele Flüchtlinge müssten nach Griechenland zurück. Kann sich die EU in dieser Frage jemals auf Griechenland verlassen?
Szijjártó: Die Erfahrung zeigt jedenfalls, dass wir uns in Sachen Grenzsicherungnicht auf Griechenland verlassen können.
Die Welt: Sollte Griechenland deswegen aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen werden?
Szijjártó: Es gibt zwei Wege. Entweder Europa entscheidet sich, den Schengen-Raum gemeinsam zu schützen. Wenn das nicht gelingt, dann müssen wir eben einen Grenzzaun bauen. Und zwar im Norden an der Grenze zu Griechenland, nicht im Süden an der Grenze zur Türkei. Das wäre im Grunde grotesk: Im Moment verlassen wir uns mit Mazedonien auf ein Land, das seit sechs Jahren versucht, in die EU zu kommen. Das scheitert mit Griechenland ausgerechnet an dem Land, auf das wir uns absolut nicht verlassen können. Eine verrückte Situation!
Die Welt: Lassen Sie uns über die politische Dimension der Flüchtlingskrise sprechen. Sie vertreten eine andere Position als die Bundesregierung. Wurde jemals von Berlin aus Druck auf Sie ausgeübt?
Szijjártó: Nein. Die Beziehung unserer Länder ist dafür viel zu gut und zu vertrauensvoll. Immerhin sind Parteien an der Macht, die sich nahestehen. DieBundeskanzlerin hat darüber hinaus ein sehr gutes Verhältnis zu unserem Premierminister. Auch wirtschaftlich arbeiten wir eng zusammen. Deutschland ist für uns eine Art Kompass, besonders in außenpolitischen Fragen.
Die Welt: Das ist die eine Seite der Medaille. Und die andere?
Szijjártó: In der Flüchtlingsfrage unterscheidet sich die Politik unserer Länder. Der Dissens ist keine Tragödie.
Die Welt: Gibt es in der EU eine Art Achsenbildung? Die Visegrád-Staaten auf der einen, Deutschland, die Niederlande, Schweden, aber auch Italien auf der anderen Seite?
Szijjártó: Die stärkste Eigenschaft der EU ist die Einheit. Wenn wir die aufgeben, dann schlagen wir einen ganz dunklen Pfad ein. Das ist nicht in unserem Interesse. Wir sind 28 Länder. Natürlich gehen da mitunter die Meinungen auseinander. Ich hoffe aber, dass wir uns einigen. Noch vor eineinhalb Jahren wurden wir Ungarn für unsere Haltung in der Migrantenfrage geächtet. Jetzt sind Politiker auch in Deutschland zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie wir gekommen.
Die Welt: War die Schließung der Balkanroute notwendig, um den Türkei-Deal zustande zu bekommen?
Szijjártó: Die Schließung war in jeder Hinsicht notwendig – eben auch, um ausbalancierte Verhandlungen mit der Türkei führen zu können. Wenn eine Partei über die andere weiß, dass sie nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen – dann ist das keine gute Ausgangslage für Gespräche. Unsere Position war also: Wir zeigen Ankara, dass wir uns sehr wohl selbst verteidigen können. Wäre dieses Zeichen ausgeblieben, wäre das Abkommen sicherlich nicht in unserem Sinne ausgefallen. Es hat gewisse Dinge erleichtert.
Die Welt: Wie bewerten Sie das Abkommen als solches?
Szijjártó: In der Türkei nimmt man leider an, dass die Kooperation in der Flüchtlingskrise zur Einführung der Visafreiheit führt. Das ist nicht Teil der Vereinbarung. Die Türkei muss weiterhin eine Liste von Forderungen erfüllen – zum Beispiel die Antiterrorgesetze ändern –, damit die Visumpflicht aufgehoben wird. Für den Flüchtlingsdeal ist diese Verknüpfung gefährlich. Sie erhöht auch den Druck auf Europa. Ich fürchte, dass die türkische Seite diese angebliche Verbindung bewusst im eigenen Land verbreitet hat. Sie kann jederzeit behaupten, von Brüssel betrogen worden zu sein.
Die Welt: Kann man sich in der Flüchtlingskrise auf die Türkei verlassen?
Szijjártó: Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei ist sehr wichtig, gleichzeitig muss die EU unabhängig vom Abkommen in der Lage sein, ihre Grenzen zu verteidigen.
Die Welt: Sie sagen klar, die Schließung der Balkanroute und das Türkei-Abkommen haben die Zahl der Flüchtlinge sinken lassen. Wenn es so ist, warum fällt es Budapest noch immer so schwer, nun eine versöhnliche Geste zu zeigen und sich an der Verteilung der Flüchtlinge nach dem bereits bestehenden Schlüssel zu beteiligen?
Szijjártó: Wir sind grundsätzlich gegen das Quotensystem. Wenn Hunderte oder Tausende von Migranten nach Ungarn geschickt würden, würden sich viele von ihnen am nächsten Tag auf den Weg nach Deutschland, Schweden oder Österreich machen. Diese Menschen wollen nicht in Ungarn leben! Diese Quotenregelung würde darüber hinaus noch mehr Migranten nach Europa locken. Erinnern Sie sich doch an die Ankündigung des BAMF im vergangenen August, wonach Syrer, wenn sie erst in Deutschland sind, auch dort bleiben dürfen. Der Effekt auf die Migranten in Serbien und Ungarn war gewaltig. Sie riefen „Deutschland, Deutschland” und „Angela, Angela”. Die Erfüllung der Quote gliche einer weiteren Einladung nach Europa. Außerdem befürchten wir: Wenn wir einmal diesem Verteilungsschlüssel zustimmen, wird er zur Regel werden. Brüssel wird irgendwann sagen, durch die Umstände seien noch weitere Migranten aufzunehmen. Nicht mit uns!