Folter war in Tunesien lange Alltag; die Aufarbeitung stockt. Bis heute ist Gewalt unter Uniformierten verbreitet. Angesichts des Terrors bröckelt der Konsens über das Folterverbot.

Die Hölle im obersten Stock des Innenministeriums

Radhia Nasraoui, Tunesiens bekannteste Aktivistin gegen Folter, bei einer Demonstration in Tunis. (Bild: Zoubeir Souissi / Reuters)

Nach fünf Stunden Anhörung vor der Wahrheitskommission Tunesiens strahlt Mehrezia Belabed. «Vor zwei Jahren habe ich zum ersten Mal im Fernsehen erzählt, wie sie mich gefoltert haben. Danach war ich eine Woche krank», sagt sie. Aber inzwischen wird der Schmerz jedes Mal kleiner, und die Erinnerungen werden immer klarer, wenn sie Zeugnis ablegt von ihrer Qual. «Als ich ihnen sagte, dass ich im dritten Monat schwanger bin, haben sie mich mit den Füssen in den Bauch getreten», sagt Belabed. Nach der Fehlgeburt liegt sie noch zwei Tage blutend in der Polizeiwache. Weil ihr revolutionäre Umtriebe unterstellt werden, wenn die dreifache Mutter mit den Nachbarn den Koran liest, muss sie 1991 ein Jahr ins Gefängnis.

Tage lang wie Jahrhunderte

1992 wird sie mit einer Gruppe von Nahda-Aktivisten erneut verhaftet und in das gefürchtete oberste Stockwerk des Innenministeriums gebracht. «28 Tage dort sind wie 28 Jahrhunderte», sagt Belabed, die damals 26 Jahre alt war. «Sie haben immer einen von uns gefoltert. Die anderen mussten zuschauen. Die ganze Nacht lang.» Sie wird nackt in der «Grillhuhn»-Position auf eine Eisenstange gefesselt und aufgehängt, einen Putzlappen im Mund, um die Schreie zu ersticken. Dann kopfüber abwechslungsweise in heisses und eiskaltes Wasser getaucht. Zum Schluss bekommt sie eine Spritze. Bis heute weiss sie nicht, was ihr injiziert wurde. Aber sie redet nicht, weil es nichts zu gestehen gibt.

Seit 1992 hat Mehrezia Belabed keinen Fuss mehr auf die Avenue Bourguiba vor dem Innenministerium im Stadtzentrum von Tunis gesetzt. Erst als der 14. Januar 2011 kam. «Hau ab, Ben Ali», schrie sie gegen ihre eigene Angst. Sein Sturz sei ihre Entschädigung, sagt sie lächelnd. Die heute fünffache Mutter, die von der ersten nachrevolutionären Nahda-Regierung einen Posten bei der staatlichen Gasgesellschaft als Entschädigung bekam, kämpft dafür, dass die Opfer reden, die Täter benannt werden und es nie wieder passiert. Der Polizist, der sie vor 24 Jahren in den Bauch trat, ist immer noch im Einsatz in ihrem Stadtviertel Douar Hicher. Ohne Angst nennt sie seinen Namen: «Lazar El Kefi».

Der lange Weg zur Wahrheit

«Nach der Revolution waren wir voller Hoffnung. Endlich kam das Unrecht zur Sprache», sagt Fadma Cherif, Präsidentin der 2012 gegründeten Vereinigung Nissaa Tounsyat. Sie ist das Sprachrohr von über vierhundert Frauen, die während der Diktatur inhaftiert, misshandelt und gefoltert wurden. 2012 gab es die erste aufsehenerregende öffentliche Anhörung der Opfer in der Hauptstadt. Im ganzen Land meldeten sich danach Menschen zu Wort.

Die Troika-Regierung unter Führung der moderat islamistischen Nahda brachte 2013 ein Gesetz zur Übergangsjustiz durch das Parlament, das die Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) zur Aufarbeitung vergangenen Unrechts von 1955 bis 2013 einsetzte. Doch schon ihr Start war schwierig. Opfer aus der linken Szene werfen den islamistischen Opfern vor, Leid und Unrecht in bare Münze, zum Beispiel Stellen in der öffentlichen Verwaltung, verwandeln zu wollen.

Der Rechtswissenschafter Wahid Ferchichi, der gerade einen Bericht zur Beteiligung der Opfer an der Übergangsjustiz veröffentlicht hat, spricht von einer «Fragmentarisierung der Opferszene» und scharfer Konkurrenz der verschiedenen Lager. Ausserdem sind die meisten Opfer unzufrieden, weil die vielen runden Tische und internationalen Konferenzen ihre häufig prekäre Lebenssituation um keinen Deut verbessert haben.

Die tunesischen Medien haben sich eingeschossen auf interne Streitigkeiten in der IVD und den Vorwurf, die Vorsitzende Sihem Benseddrine sei pro Nahda. Von den Geschichten der Opfer dagegen liest und hört man wenig. Staatspräsident Essebsi spricht lieber von Versöhnung als von der Vergangenheit. Im Sommer legte er einen Gesetzentwurf zur wirtschaftlichen Aussöhnung vor, der laut einem Rechtsgutachten der Europäischen Union nicht geeignet ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Angst vor der Verantwortung

Ibtihel Abdellatif, Vorsitzende der Frauenkommission in der IVD, ist enttäuscht: «Wir bekommen von der politischen Klasse keine Unterstützung. Im Gegenteil.» Etwa zwei Dutzend Anhörungen finden täglich in Tunis oder den neun regionalen Aussenstellen statt. Mehr als 22 000 Dossiers sind bisher eingereicht worden.

Doch Vergangenheitsbewältigung steht auf der Prioritätenliste der schwächelnden Regierung der säkular-bürgerlichen Partei Nidaa Tounes weit hinter dem Krieg gegen den Terrorismus und Wirtschaftsreformen. «Die Regierung will jetzt ein neues Kapitel in der Geschichte Tunesiens aufschlagen», sagt Rim El Gantri vom Internationalen Zentrum für Übergangsjustiz in Tunis (ICTJ). Viele der heute Mächtigen hätten Angst, dass ihre Rolle im alten Regime zur Sprache komme und sie Verantwortung übernehmen müssten.

Ausgebremst wird die Übergangsjustiz auch dadurch, dass sich im Kampf gegen den Terror zunehmend die Meinung durchzusetzen scheint, dass der Zweck die Mittel heilige. Wenn es um die nationale Sicherheit geht, ist man bei den Verhören mutmasslicher Terrorverdächtiger nicht zimperlich. «Wer heute von Folter durch die Polizei spricht, steht sofort unter Verdacht, den Terrorismus zu rechtfertigen», sagt El Gantri.

Der jüngste Bericht der Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) spricht von einer bedrückenden Zahl ungeklärter Todesfälle in Untersuchungshaft, gewaltsamen Verhörmethoden, der unerträglichen Langsamkeit der Justiz und der inakzeptablen Straffreiheit der Verantwortlichen im Sicherheitsapparat. Der Weg zum Rechtsstaat ist noch lang. Dick Marty, Vizepräsident der OMCT, sagt: «Die Behörden wissen, was Rechtsstaat und Menschenrechte bedeuten. Aber sie setzen es nicht um.» Eine unabhängige Justiz gebe es nicht.

Gewalt in rechtsfreien Räumen

Auch tunesische Polizeiwachen sind in vielen Nächten noch immer rechtsfreie Räume. An einem Samstagabend vor zwei Jahren wollte Ahmed Abda Zigaretten kaufen. Drei Polizisten kontrollieren seine Papiere, beschimpfen und verhaften ihn. Auf der Polizeiwache schlagen sie ihn bewusstlos, treten ihn ins Gesicht, bis Nasenbein und Schädelknochen brechen. Heute ist der 35-Jährige auf einem Auge blind, sein Gesicht voller Narben, seine vom Kettenrauchen vergilbten Finger zittern. Die Polizisten erfinden eine Geschichte von einem Streit mit seinem Bruder in Volltrunkenheit und lassen seine Mutter, die weder lesen noch schreiben kann, das Protokoll unterschreiben.

Abda verbringt einen furchtbaren Monat im Gefängnis, ohne dass ein Gerichtsmediziner ihn untersucht. «Das hat mein Leben zerstört», sagt er verbittert und zündet die nächste Zigarette an. Er nimmt all seinen Mut und sein Geld zusammen und erstattet Anzeige. Der Prozess läuft noch. Die Familien der Polizisten haben ihm 20 000 Dinar, umgerechnet 10 000 Franken, geboten, wenn er schweigt. Doch Abda will kämpfen gegen Willkür und Straflosigkeit: «Es muss endlich aufhören.»

Allmacht der Polizisten

Im kafkaesken Gestrüpp einer sich für allmächtig haltenden und willkürlich handelnden Justiz verlieren viele Tunesier ihren Glauben an die Gerechtigkeit in ihrer jungen Demokratie. Salwa Belhedi hat fast die Hoffnung aufgegeben, ihre beiden Söhne lebend aus dem Gefängnis zu bekommen. Die politische Polizei Ben Alis nimmt Samir und Sami 2007 fest, weil sie angeblich einen Anschlag auf den Präsidenten planten. Sie werden mit Elektroschocks gefoltert, mit Metallstangen vergewaltigt, ihnen wird mit Holzstöcken auf die Beine geschlagen, ihr Essen wird verunreinigt. Nach der Revolution kommen sie frei, Ende zwanzig, aber gebrochen.

Die Polizei ist nachtragend, sucht Vorwände für eine neue Verhaftung. «Ein Polizist hat mir gesagt, sie wollten unserer ganzen Familie eine Lehre erteilen», erzählt die 56-Jährige mit zitternden Händen. Seit einem Jahr sind die Zwillinge wieder im Gefängnis, obwohl der Gesundheitszustand von Samir sich dramatisch verschlechtert. Unter Tränen sagt seine Mutter: «Unter Ben Ali war der Staat schlecht. Aber heute hält sich jeder Polizist für allmächtig.»

Forrás: http://www.nzz.ch